Islands Westfjorde

Der Name ist Programm: Die große Halbinsel, wie ein Anhang im äußersten Westen Islands, besteht im Wesentlichen aus Fjorden. Du fährst mit dem Auto in einen Fjord rein, um das Ende herum und auf der anderen Seite wieder raus. Mehrmals täglich, denn die Fjorde bestimmen fingerartig die gesamte Küstenlandschaft. Langweilig? Nein, ganz im Gegenteil, aber schau selbst.

Die Hauptstadt heißt Isafjördur; der Flug vom Stadtflughafen Reykjavik dauert 35 Minuten.

Bucht von Isäfjördur

Die Stadt ist eher ein Dorf mit 2700 Einwohner:innen. Es gibt neben modernen Bauten einige historische Holzhäuser, zwei nette Cafes und einen Supermarkt. Wer Bier oder stärkeren Alkohol trinken möchte muss in den Hafen marschieren – zur Vinbudin. Dort gibt es – aber erst ab mittags um ein Uhr – alles, von Dynandi (Bier) bis Corona (Bier), von Wein bis Whisky. Die Preise erwähne ich lieber nicht. Alles ist für deutsche Verhältnisse gut doppelt so teuer, Alkohol noch mehr. Im Heimatmuseum wird anhand von liebevoll zusammengetragenen Utensilien das Leben einer Familie um 1900 bis heute dargestellt.

Isafjördur lebt im Wesentlichen von Fischerei – natürlich nicht mehr von Hand wie in diesem Denkmal dargestellt.

Fischerdenkmal
Fischerdenkmal

Im historischenn Teil des Hafens liegen alte Holzfischerboote auf dem Trockenen. Im Hafenbecken sind einige große Trawler vertäut, überall stehen gelbe Plastikwannen und so ist der Hafen in jedem Fall einen Fotostopp wert. Ich übe mich in Hafendetailaufnahmen und beobachte eine junge Gryllteiste beim erfolgreichen Fischen.

Bolungarvik

Von Isafjördur lohnt ein Ausflug nach Bolungarvik. Neben dem Leuchtturm Osholar sind in Osvör eine historische Fischerhütte, ein Salzhaus und ein Fischtrocknungs-Schuppen aufgebaut. Das kleine Museumsdorf ist zwar außerhalb der Saison geschlossen, doch die Außenanlagen sind frei zugänglich.

Historische Fischerhütten Osvör
Historische Fischerhütten Osvör

Auf dem Weg zum Strand von Minnibacki ergötze ich mich an der Landschaft und vor allem an den intensiv-knalligen Herbstfarben. Ich beschließe: September ist eine gute Reisezeit, auch wenn es gerade nieselt oder vielmehr weil gerade leichter Nieselregen fällt. Das lässt die Farben noch intensiver erstrahlen.

Am schwarzsandigem Strand beschäftige ich mich ein bisschen mit den sanften Wellen. Schwarze Lavastrände sind bezeichnend für Island – zum Fotografieren sind sie eine echte Herausforderung.

Einen grandiosen Eindruck von der unwegsamen Landschaft der Westfjorde bekommen wir am Bolafjall-Aussichtspunkt. Von hier schauen wir hinüber auf die unwegsame, zerklüftete Küste von Hornstrandir. Der kalte Wind pfeift kräftig hier oben. Breitbeinig wie ein Cowboy stemme ich meine Beine in den Boden und habe trotzdem noch Mühe die Kamera ruhig zu halten.

Blick auf die Küste von Hornstrandir
Blick auf die Küste von Hornstrandir

Wir fahren Richtung Thingeyri. Am Weg liegt der wohl spektakulärste Wasserfall der Westfjorde: der Dynandi. In mehreren Stufen fällt sein Wasser den Berg hinunter. Ganz oben kraksele ich rechter Hand vom Wasserfall den Hang hinauf, ich möchte unbedingt ein Foto von der Seite machen. Der Wind weht die Gischt des Wasserfalls direkt auf mich und meine Kamera. Während ich meine komplette Regenmontur trage, ist meine Kamera schutzlos der kalten Dusche ausgesetzt. Das realisiere ich jedoch erst richtig, als ich den Fotoapparat wieder vom Auge löse. Er hat es überlebt. Zum Glück. Drei Stunden Zeit sind uns gegönnt, bevor es dämmert und nun auch der Himmel seine Wasserpforten öffnet.

Thingeyri

Thingeyri ist ein Ort mit nicht einmal 300 Einwohnern. Wir übernachten im einzigen Hotel am Ort, Hotel Sandafell. Im Wesentlichen leben die Menschen vom Fischfang – es gibt einen Hafen, Fischtrocknungs-Hütten und zwei Fischfabriken. Nur ein Lebensmittelgeschäft suchen wir vergeblich. Zum Glück bietet das Hotel ein gutes und preiswertes Abendbuffet an.

Die Landschaft zwischen Thingeyri und Raudsdalur ist überwältigend. Vorwärts bewegen wir uns im Schneckentempo, denn immer wieder halten wir an für ausgiebige Fotostopps. Selbst als unser Weg in den Wolken verschwindet, ist die Stimmung so mystisch, dass wir anhalten wollen. Zwischendurch reißen die Wolken auf und gewähren kurzzeitige Aussicht.

Raudsdalur

In Raudsdalur gibt es ein Hotel und ein Guesthouse. Wir übernachten mit Selbstverpflegung im Guesthouse. Der Strand liegt direkt vor unserer Haustür.

Strand von Raudsdalur
Strand von Raudsdalur

Auf dem Weg nach Breidavik, im Skápadalur-Tal, liegt das ehemalige Walfangschiff Gardar 64 am Strand. Dieses in Norwegen gebaute Stahlschiff lief im selben Jahr vom Stapel, in dem die Titanic ihr endgültiges Schicksal ereilte. Es war ein riesiges Hybridschiff, das neben den traditionellen Segeln auch eine leistungsstarke Dampfmaschine besaß. Nach dem Rückgang des Walfangs wurde das Boot für den Heringsfang vor Island eingesetzt. Doch nach 69 Jahren wurde die Gardar 64 altersschwach; sie war nicht mehr fahrtüchtig. Anstatt das Schiff zu versenken wurde es an dieser Stelle auf Grund gesetzt und rostet seit Jahren vor sich hin. Dabei erfreut es zahlreiche Fotograf:innen mit seinem maroden Charme. Ich sehe noch dazu überall Gesichter.

Über eine Rüttelpiste erreichen wir das westlichste Ende von Island: Breidavik. Einige Häuser, eine Kirche, ein Friedhof – die letzte Beerdigung war 2012 – ein ewig langer Strand, ein überdimensional großes Hotel.

Das Hotel ist jetzt, Ende September, geschlossen. Leider auch das Restaurant. Dabei hatten wir uns schon auf einen heißen Kaffee gefreut. Doch die Saison ist zu Ende, wir sind die einzigen Besucher. Ich frage mich, ob es jemals ausgebucht ist, warum sollten Menschen hierher kommen? Diese Frage beantworte ich mir nach nur wenigen Kilometern selbst. Am westlichsten Ende Islands liegt der Leuchttum Bjargtangaviti. Von hier führt ein Wanderweg die Klippen hinauf. Diese sind im Sommer voll besetzt mit Eissturmvögeln, Papageitauchern und Gryllteisten. Wir sehen nur vereinzelte Eissturmvögel in der Luft.

Bjargtangaviti
Bjargtangaviti

Djupavik

Von Raudsdalur fahren wir nach Djúpavík. Es ist ein ordentlicher Kilometerschlag, 200 genauer gesagt, davon etliche auf unbefestigter Holperpiste. In Holmavik ist der letzte Supermarkt und die letzte Tankstelle für die nächsten 150 Kilometer. Wir decken uns mit Essen ein und füllen den Tank des Autos. Unseren ersten Stopp machen wir in einer Bucht, in der unglaublich viel sibirisches Treibholz liegt. Es sind bereits entrindete, zugeschnittene Stämme, die sich aus den großen Flößen gelöst haben und ihren Weg über’s Meer fanden. Stämme mit Wurzeln und Kronen sehen wir nicht. Danach geht es über den Pass nach Djúpavík.

Djúpavík. Ein paar Häuser, eine verrostende verlassene Tankstelle, eine riesige alte Fischfabrik. Ein Hotel.

Was machen wir in diesem Nest? Das Hotel gehört Ásbjörn Þorgilsson und seiner Frau Eva Sigurbjörnsdottir. Sie kamen mit einer Vision in den verlassen Ort Djúpavík: Sie wollten das Dorf wieder beleben. Dazu renovierten sie gemeinsam das Arbeiterinnenhaus und machten daraus 1985 das Hotel Djupavik. Da die Geschichte des Hauses eng mit der Geschichte der Fischfabrik verknüpft ist, buchen wir eine Tour durch die Fabrik. Diese kostet pro Person 2700 Kronen (etwa 20 Eruo) und ist jeden Cent wert. Der Chef des Hotels, Ásbjörns Schwiegersohn, führt uns.

Alte Fischfabrik Djupavik
Alte Fischfabrik Djupavik

Die Fabrik zum Verarbeiten von Heringen wurde 1917 in nur 16 Monaten Bauzeit errichtet. Eine wahre Meisterleistung, denn Maschinen gab es keine, alles musste von Hand mit Schubkarren, Spitzhacke und Schaufel vollbracht werden. Warum wurde gerade in diesem Niemandsort eine solche Fabrik gebaut? Der Fjord ist tief – Djúpavík heißt soviel wie „tiefe Bucht / Bucht der Abgründe“. Die Gewässer waren reich an Heringen und die großen Heringstrawler konnten direkt bis an die Fabrik fahren.

Die ersten Einwohner waren Guðjón Jónsson und dessen Frau Kristín Guðmundsdóttir sowie ihre Töchter. Gleichzeitig errichteten Elías Stefánsson eine Heringssalzstation und Óskar Halldórsson eine Heringsverarbeitungsstation. Es entstanden ein Schiffsanleger, Wohnhäuser und Geschäfte. Ab 1934 war Djúpavík in einer wirtschaftlichen Hochphase. Um mit ausländischem Kapital eine große Heringsfabrik bauen zu können, wurde die Djúpavík AG gegründet. Es entstand die größte und modernste Heringsfabrik Europas. 60 Menschen waren hier beschäftigt, zuzüglich der rund 200 Saison-Arbeiterinnen, die als Einsalzerinnen tätig weren. Die Arbeiter wohnten in Zelten und in der kalten Jahreszeit auf dem alten Dampfschiff, das heute verrostend am Strand liegt. Die Einsalzerinnen wohnten in dem Haus, das heute auch uns Obdach bietet. Bis 1944 lief alles prächtig, der Kredit konnte schon nach zwei Jahren zurückgezahlt werden.

Der Hering wurde vom Schiff per Fließband in einen Topf mit heißem Dampf gegeben und danach mit Zentrifugen ausgepresst. Das Öl fand Verwendung als Schmieröl und als Kühlöl für die Härtung bei der Herstellung von Kanonen. Der Rest der Heringe, das so genannte herringmeal, wurde als Düngemittel genutzt. 80% des angelieferten Herings wurde zu Tran verarbeitet, nur etwa 20% wurden als Nahrungsmittel verwendet. Dazu wurden die Heringe eingesalzen und in großen Fässern eingelegt. Das war die Arbeit der Frauen. Sie standen bei Wind und Wetter unter freiem Himmel, nahmen die Fische aus, salzten sie, und legten sie sorgfältig in die Fässer. 11 Stunden täglich. War ein Fass voll, bekamen sie ein Token. Am Ende des Tages wurden sie nach gesammelten Token bezahlt. Was für eine Knochenarbeit, denken wir beeindruckt, doch die Frauen, die dort gearbeitet haben berichten von fröhlichen Abenden und viel Spaß.

Die Männer hingegen arbeiteten in der Fabrik. Sie waren angestellt während die Frauen sogar ihr Arbeitsgerät selbst mitbringen mussten. Für die Männer gab es in der Kantine eine warme Mahlzeit, für die Frauen gab es nichts. Es waren ja nur Frauen.

Doch dann wurde der Heringsfang merklich geringer, bis er 1950 fast gänzlich versiegte. Die Gewässer waren leergefischt. Ausgleichsmaßnahmen, wie etwa das Fangen anderer Fischarten, konnten das Ende der Fabrik im Jahre 1954 nur noch ein paar Jahre hinauszögern. Auch der Plan, im Ort eine Gefrierhalle zu eröffnen, wurde auf Grund des ausbleibenden Fischfangs verworfen. 1968 wurde die Djúpavík AG liquidiert; nach und nach verließen die Einwohner den Ort. 1982 war Djúpavík verlassen. Menschenleer. Ein Geisterdorf. Von 1971-1984 war diese Fabrik dem Verfall preisgegeben. Jeder konnte rein und raus, Gegenstände wurden als Souvenir mitgenommen oder mutwillig zerstört. Doch dann kamen Ásbjörn und Eva mit ihrer Vision. Sie kauften die Fabrik um sie zu erhalten und begannen mit der Renovierung des Arbeiterinnenhauses.

2003 wurde in der ehemaligen Heringsfabrik eine kleine Ausstellung zur Geschichte des Ortes eröffnet. Ásbjörn Þorgilsson hat sich zur Aufgabe gemacht, die Fabrik zu erhalten. Viel Geld, Eigeninitiative und Herzblut steckt in der Fotoausstellung und in der Erhaltung des Gebäudes sowie der Maschinen. Das Dach wurde mit Teerpappe gesichert, der Sockel des Baus wurde abgedichtet. Heute werden täglich um 10 Uhr Führungen angeboten, es gibt auch Fotoführungen, die sind dann etwas teurer. In einem der drei Tran-Tanks, in denen einst 5600 Tonnen Heringsöl lagerten, ist heute eine Kunst-Installation untergebracht. Ein Mal im Jahr wird die ehemalige Fließbandhalle für eine große Kunstausstellung genutzt; außerdem soll in einem Raum ein Yoga-Studio eingerichtet werden.

In den heutigen Doppelzimmern des Arbeiterinnenhauses, die wir als nicht gerade geräumig empfinden, waren damals bis zu acht Arbeiterinnen untergebracht. Die Gemeinschaftswaschräume sind liebevoll und sauber eingerichtet, ebenso die stilvolle Sitzecke. Wir fühlen uns wie zu Hause. Diese Unterkunft ist die authentischste unserer gesamten Reise und wir genießen jede Minute hier. Ach ja, das Essen im Restaurant kann ich Euch ebenfalls empfehlen … und die Kuchen – ein absoluter Genuss.

Heydalur

Doch wir müssen weiter, zurück nach Isäfjördur und ich stelle fest, nachdem es die letzten Tage heftigst gestürmt und geregnet hat: die Westfjorde können auch sonnig. Die Landschaft wirkt komplett anders. Unterwegs treffen wir auf eine kleine Familie Schafe, die sich am felsigen Strand mit frisch angeschwemmtem Kelp laben.

Doch eine Übernachtung unterwegs haben wir noch, in Heydalur. Ein wunderbarer Ort. Es ist kein Ort im eigentlichen Sinn, sondern nur ein altes Farmhaus, das zu einem modernen Hotel und Restaurant umgebaut wurde. Die Zimmer sind hell und geräumig, mit Fußbodenheizung. Es gibt Gewächshäuser deren Inhalt für frisches Obst und Gemüse sorgt und mittendrin ein Swimmingpool. Schwimmen im Urwald während es draußen schneegrieselt. Großartig. Wir könnten auch Reiten, Wandern oder Fischen gehen, aber dazu fehlt die Zeit. Das machen wir beim nächsten Mal.

Auf dem Weg zurück nach Isäfjördur liegt das Polarfuchs-Zentrum (Artic Fox Center) in Sudavik. 2007 von 42 Einheimischen gegründet beherbergt das Haus ein kleines aber sehr feines Museum, ein Cafe mit hausgemachtem Kuchen und im Außenbereich ein Gehege für Polarfüchse. Zurzeit wird hier ein Geschwisterpaar versorgt. Seine Mutter wurde von einem Bauern erschossen, erst später fand dieser die beiden Jungtiere und brachte sie ins Polarfuchszentrum. Das Arctic Fox Center beteiligt sich auch an der Förderung von Forschungsprogrammen über die isländische Polarfuchspopulation.

Zum guten Schluss habe ich noch einige Wegimpressionen für Euch, zwischen Heydalur und Isafjördur.