Ein Tag in der historischen Porzellanfabrik Annaburg
Es sind Tausende. Niemand kann mir sagen wie viele. Niemand weiß es. In mehreren Hallen liegen sie, die schneeweißen Gipsformen, ordentlich aufeinander gestapelt. Palettenweise. Wie würde ich hier die Form finden, die ich gerade für die Herstellung einer bestimmten Porzellankanne benötige?
Ich bin in der historischen Porzellanfabrik Annaburg in der Kleinstadt Annaburg. 30 Kilometer sind es bis nach Lutherstadt Wittenberg. Diese Porzellanfabrik hat eine bewegte Geschichte – sie beginnt 1874 mit zwei Kohle-Rundöfen.
Nur drei Jahre später wird Konkurs angemeldet. Fast 10 Jahre vergehen bis es wieder richtig bergauf geht. 1896 werden bereits sechs Rundöfen von 455 Arbeitern betrieben; die Fabrik erhält ihren eigenen Gleisanschluss an die Preußische Staatsbahn.
Produziert werden Steingutgeschirre, Kunsttöpfereien und Plastiken. Nach einer Wirtschaftskrise erfolgt die Umstellung auf Gebrauchswaren wie Küchen- und Waschgarnituren, Milchtöpfe und Teller. Im 2. Weltkrieg arbeiten Kriegsgefangene in der Produktion. Das vorläufige Ende wird 1945 mit dem Selbstmord des Eigentümers, Hans Untucht, besiegelt. Doch schon bald wird erneut produziert: mit 40 Arbeitern. In den Folgejahren schaffen bis zu 550 Arbeiter:innen im VEB Kombinat Annaburg.
Nach der Wende übernimmt 1992 Peter Ploss das Unternehmen und produziert mit 80 Arbeitnehmer:innen hochwertiges, robustes Geschirr für Großabnehmer wie Hotel- und Gastrobetriebe.
Doch steigende Energie- und Arbeitskraftkosten auf der einen und sinkende Nachfrage auf der anderen Seite sorgen 2015 für den Konkurs. 2019 erwirbt ein privater Investor das Werksgelände mit allen Gebäuden und errichtet auf den Dächern ein Solarkraftwerk. Auf einem verheißungsvollen Plakat lese ich von der Entwicklung eines modern Areals mit Stadtpark, Arbeits-, Wohn-, und Sportbereichen. Ich frage mich für wen, aber dazu komme ich später noch.
Ich bin heute im Rahmen einer sechstündigen Fototour mit go2know hier. 25 teils schwer mit fotagrafischem Gerät und Stativen bewaffnete Menschen verteilen sich auf dem weitläufigen Gelände. Nur für uns ist die Fabrik heute zugänglich.
Die historischen Produktionshallen sind beinahe leer, nur ein riesiger Ofen und ein verwaister Schreibtisch stehen noch an einer Wand. An einer anderen Wand hängen Formen, die wie Ohrmuscheln aussehen. Es sind die Formen für die Henkel von Tassen und Kannen.
Überall gibt es kleine Büros. Einige davon sind verwüstet; bei anderen hingegen hat es den Anschein als ob der/die Angestellte gerade kurz zur Mittagspause das Büro verlassen hätte. Wenn da nicht diese dicken Bücher im Regal ständen: Wer liefert was. Erinnerungen aus meiner Lehrzeit als Industriekauffrau werden wach. Im Zeitalter vor dem Internet war dieses umfangreiche Werk das heilige Buch eines jeden Einkäufers. Mir fällt auf, dass die meisten Bürofenster mit Gardinen ausgestattet waren. Das hatte ich während meines Arbeitnehmerlebens nie. Eine eigene Kegelbahn hatten meine Arbeitgeber auch nicht …
In den Laboren stehen allerlei Gefäße mit Substanzen und Flüssigkeiten. Niemand weiß genau um was es sich handelt. Wir wurden darauf hingewiesen auf keinen Fall etwas anzufassen.
Dann sind da die Hallen mit den Gipsformen. Es ist ziemlich schwer fotografisch die Dimension und den Eindruck einzufangen. Das musst Du einfach gesehen haben.
Die Gipswerkstatt ist gleich nebenan. Alles ziemlich weiß hier.
Das Gelände ist riesig und nach fünfstündigem Blick durch den Sucher und auf den Bildschirm bin ich völlig platt. Zum Glück hat extra für uns der Förderverein Annaburger Porzellaneum e.V. heute Nachmittag geöffnet.
Als 2015 das endgültige Aus für die Porzellanfabrik kam, sicherten sich die engagierten Vereinsmitglieder Porzellan aus der letzten Produktion. In einer Aktion zusammen mit Schüler:innen wurde kistenweise Porzellan gerettet. Heute kann dieses Porzellan im Showroom erworben werden.
Ein kleines Café mit hausgebackenem Kuchen rundet den Besuch ab. Unter der Woche ist von 9-17 Uhr geöffnet, am Wochenende jedoch nur auf Anfrage. Das Café ist wirklich meine und unsere Rettung.
Annaburg – der Ort
Annaburg ist zwar eine Stadt mit knapp 7000 Einwohnern, aber in meinen Augen ein Dorf. Im Zentrum steht gefühlt jedes zweite Gebäude leer. Allein eine Lebensmittelkette hat Montag bis Samstag von 6:30 bis 20 Uhr geöffnet. Der einzige Dönerimbiss hat zum Jahresende 2024 mangels Umsatz geschlossen. Der Obsthändler und der Raumausstatter haben aufgegeben. Die Apotheke schließt im nächsten Monat. Aber es gibt ein Bike-Outlet das hin und wieder geöffnet hat und einen Raketenverkäufer. Zwei Bäcker sind noch da. Hurra. Aber sonntags hat keiner der beiden geöffnet. Bäcker Kärpernick betreibt sogar ein stilvoll eingerichtetes Café – sonntags geschlossen, samstags nur bis 11 Uhr am Vormittag und unter der Woche immerhin von 6:30 bis 16:30 Uhr. Ich kaufe ein Stück superleckeren Pflaumenkuchen auf Vorrat. Der Fleischer hat Betriebsferien. Das Heimatmuseum mit einem historischen Klassenzimmer hat nur mittwochs und donnerstags geöffnet bis 16 Uhr. Der Wald ist auch geschlossen. Wegen Lebensgefahr, die jedoch nicht weiter erläutert wird. Waldbrand, umstürzende Bäume wegen Trockenbruch, militärische Übungen? Ein weiteres, viel größeres Waldstück ist eine Spielwiese für’s Militär und für den Normalverbraucher nicht zugänglich.
Es gibt zwei Gasthöfe. Ob der eine geöffnet ist, habe ich nicht herausgefunden, aber Gasthof Dietze hat geöffnet. Wer hier spontan zu Abend essen möchte könnte Pech haben – nur mittwochs bis freitags ist geöffnet, samstags auf Anfrage. Ich übernachte hier. Dass ich hier essen möchte hat man offenbar schon eingeplant – ich kann sogar à la Carte wählen und entscheide mich für Wildbraten mit Klößen und ein frisch gezapftes Bier. Lecker. Das Zimmer ist sauber und ordentlich, das Bett hat eine gute Matratze und Petra, die Köchin und Dame für fast alles, ist ausgesprochen hilfsbereit. Als sie hört, dass ich mit dem Zug anreise, bietet sie spontan an mich abzuholen. Der Gasthof liegt knapp drei Kilometer vom Bahnhof entfernt; ich bin gut zu Fuß, aber mit Gepäck ist eine Abholung doch sehr angenehm.
Da die Anfahrt nach Annaburg von Wuppertal zwischen fünf und sieben Stunden (je nach Bahnpünktlichkeit) dauert, plane ich gleich fünf Tage ein. So lerne ich Orte kennen, in die ich normalerweise nie gekommen wäre. So traurig und tot die geschäftliche Situation in Annaburg ist, so liebenswert sind doch die Menschen, die dort wohnen. Es gibt eine Rosenkönigin und ein spannendes Heimatfest mit Wettbewerben im Bierkrugschieben und Gummistiefelweitwurf. Leider nicht an diesem Wochenende.
Annaburg hieß früher Lochau und wurde nach der sächsischen Kurfürstin Anna von Dänemark und Norwegen umbenannt. Aus dieser Zeit stammt auch das Schloss. 1572-75 erbaut und heute noch zu Wohnzwecken genutzt. Jedoch nicht von nur einer Familie, es gibt viele Wohnungen. Größter Arbeitgeber ist heute das große Alten- und Pflegeheim, ebenfalls in schlossähnlichen Bauten untergebracht. Der Mathematiker und Gefährte Luthers, Michael Stifel, erwartete als Pfarrer von Lochau 1533 den von ihm vorhergesagten Weltuntergang. An dieses Szenario erinnert der Brunnen im Ortskern.
Heidewanderung
Es ist kalt geworden in der Nacht. Nur 6 Grad Celsius draußen, gestern waren es tagsüber 25 Grad Celsius. Diese Wetterlage verheißt Nebel. Ich liebe Nebel! Also nichts wie raus aus den Federn. Mit einem ersten Kaffee im Bett versuche ich um 5:30 Uhr wach zu werden. An der Gardine vor dem auf Kipp gestellten Fenster hängt ein ziemlich langer Grashopper. Dem war’s wohl zu kalt draußen, denke ich. Aber eigentlich sieht das Tier nicht aus wie ein Grashopper. Ich setze meine Brille auf: Eine Europäische Gottesanbeterin. Sie war bislang eher in Südeuropa zu finden, allenfalls am Kaiserstuhl. Doch sie ist auf dem Vormarsch – mittlerweile gibt es Sichtungen die bis nach Berlin reichen. Dies hier ist wohl ein männliches Tier, die Weibchen sind doppelt so groß. Die Farbe ist an die Umgebung angepasst. Allerdings nicht an eine weiße Gardine.
Außerdem ist eine Gottesanbeterin kein Chamäleon – die Farbanpassung an die Umgebung erfolgt mit der Häutung. Ich nehme das Tierchen mit meinem Zahnputzbecher gefangen und ziehe mich an. Dann bringe ich es nach draußen auf ein Stück Wiese mit Hecke. Noch ein letztes Foto. Sie/Er schaut mich vorwurfsvoll an. Ist kalt draußen.
Auf den Feldern ist wirklich Nebel. Dank der Gottesanbeterin bin ich jetzt etwas spät dran, aber macht nichts. Ich laufe einen ausgewiesenen Wanderweg ins nächste Dorf nach Löben. Es ist der 600 Kilometer lange Lutherweg in Sachsen-Anhalt. Außer mir ist niemand unterwegs. In Löben gibt es nicht viel, aber ein Bushaltestellenwartehäuschen für das zweite Frühstück. Der Bus fährt sieben Mal am Tag – montags bis freitags. Heute ist Samstag. Soweit die Füße tragen.
Löben liegt an der Schwarzen Elster. Ich hatte mir vorgestellt, ein Stück am Flüsschen entlang zu wandern. Die Tour entlang der Weißen Elster bei Crossen vor einigen Monaten hatte mir sehr gut gefallen. Doch die Schwarze Elster ist anders. Hätte ich mir denken können. Beim Anblick des Flusses denke ich sofort an die Emscher.
Tatsächlich hat der Fluss einiges mit der Emscher gemein. Die Schwarze Elster ist ein ursprünglich stark mäandernder Nebenfluss der Elbe, der bei Elster in jene mündet. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Schwarze Elster stark reguliert und begradigt. Der einst reiche Fischbestand wurde beinahe ausgerottet, denn die Industriebetriebe leiteten fröhlich ihre Abwässer in den Fluss. Heute gibt man sich große Mühe mit der Renaturierung.
Der Wander- und Radweg führt am Deich entlang. Der Deich – gegen Hochwasser – darf nicht betreten werden. Am Fuß des Deiches zu marschieren hab ich keine Lust und laufe zurück nach Annaburg.
Bahnhof Annaburg
Annaburg hat einen Bahnhof mit mehreren Gleisen. Alle zwei Stunden fährt ein Personenzug nach Lutherstadt Wittenberg und in die andere Richtung nach Falkenberg. Alle 10 Minuten (gefühlt) fährt ein Güterzug beladen mit Autos, Containern, Schüttgut. Woher? Wohin? Keine Ahnung. Wahrscheinlich von / nach Tschechien oder Polen oder noch weiter gen Osten.
Ausflug nach Torgau
Ich jedenfalls warte auf den Zug nach Falkenberg. Dort muss ich umsteigen zur Weiterfahrt nach Torgau. In Torgau, so lese ich, steht das größte vollständig erhaltene Schloss der Frührenaissance Deutschlands. Schloss Hartenfels. Hatte ich bislang noch nie von gehört. Erbauen ließ es Kurfürst Friedrich der Großmütige. Es wurde nie von einem Wassergraben umgeben, sondern von einem Bärengraben. Bis zu 30 Bären sollen hier gehalten worden sein. Heute leben noch zwei Bärenbrüder in dem 3000 Quadratmeter großen Terrain. Der große Schloss-Bau beherbergt die Stadtverwaltung und drei Ausstellungen: Zur Geschichte des Schlosses, zur Geschichte des Gefängnisses Zinna (hochinteressant, aber harter Tobak) und eine Märchenausstellung. Die Schlosskapelle wurde von Luther höchstselbst geweiht. Seine Frau Katharina (geb. von Bora) verstarb an den Folgen eines Unfalls in Torgau und wurde in der Torgauer Marienkirche beerdigt. Friedrich der Größmütige gehörte zu den ersten Protestanten der Gegend und so entdecken aufmerksame Besucher:innen das Bildnis Luthers und Melanchthons am Großen Wendelstein. Der große Wendelstein ist eine weltweit einzigartige Treppenkonstruktion und führte einst in einen großen Ballsaal.
Dann wandere ich noch um den großen See, genannt Großer Teich. Es ist das größte Teichgewässer im Regierungsbezirk Leipzig (175 Hektar) und gilt als Feuchtgebiet von nationaler Bedeutung. Etwa 100 Brutvogelarten leben hier, darunter Fisch- und Seeadler sowie Schwarzstorch. Leider sehe ich nur ein Paar Schwarzstörche hoch oben in der Luft. Der See ist von einem dichten Schilfgürtel umgeben, nur an wenigen Stellen hat der Besucher freie Sicht auf das Wasser und seine Bewohner.
Der ausgewiesene, neun Kilometer lange Wanderweg führt vom See weg in den Wald hinein. Zwischen Nadelbäumen stehen hin und wieder Holzschilder mit Nummern. Der tiefere Sinn erschließt sich mir zunächst nicht – bis ein Wegweiser kommt:
Hügelgräber. Steinzeitliche Grabhügel. Im Rahmen eines Schulprojekts wurden diese Schilder von Kindern hergestellt und gemalt. Danke! Ohne diese Schilder wäre ich achtlos vorbeigewandert. Am Schluss der Wanderung setze ich mich noch mit einem sehr schmackhaften Eis auf den Rathausplatz und genieße. Der Ausflug nach Annaburg und Umgebung hat sich in jedem Fall gelohnt.