Die Emscher – Reisebericht

Die märchenhafte Geschichte eines Flusses

Es war einmal ein Wasser, das erblickte das Licht der Welt in dem kleinen Örtchen Holzwickede. Von dort machte es sich auf, seine Geschwister zu suchen. Es schlängelte sich gemächlich durch eine idyllische flache dünn besiedelte Auenlandschaft. Ein paar kleinere Brüder und Schwestern gesellten sich zu unserem Flüsschen, es wurde fülliger. Nach gut 109 Kilometern Wanderung fand es schließlich den viel breiteren Bruder und vereinigte sich mit ihm. So floss das Flüsschen gemütlich dahin, viele tausend Jahre lang.

Dann, im 18. Jahrhundert, kamen plötzlich viele Menschen und begannen unter seinem Bauch zu graben. Das Flüsschen senkte sich zum Teil, aber das tat nicht weiter weh. Schlimmer und bedrohlicher waren die großen lärmenden und stinkenden Anlagen die rechts und links seines Ufers wie Pilze aus dem Boden schossen. Sie vergifteten das Flüsschen. Einfach so. Dabei hatte es nichts Schlimmes getan. Die Menschen nutzen es, um das schlechte Wasser, das die großen Anlagen nicht mehr benötigten, einfach in sein Bett zu schütten. Die Kleintiere starben. Die Fische starben. Die Pflanzen starben. Das Ende.

Von Menschen, die etwas von Wasser verstehen, wurde dem Fluss der Status „Gewässer“ aberkannt; im 19. Jahrhundert war er kein Fluss mehr sondern ein Abwasserkanal, eine Kloake. Ganz offiziell. Er roch übel. Fäkalien schwammen auf seiner Oberfläche. Hin und wieder kam es zu Überschwemmungen. So landete das schlechte Nass auf Feldern und in Häusern. Das hatten die Menschen nicht gern. Menschen sind jedoch intelligent. Sie fingen das kleine Flüsschen einfach ein und zwängten es in ein Korsett aus grauem unbeweglichem Beton. Nun durfte es nicht länger mäandern und floss schnurgerade dahin.  Sogar die Stelle der Vereinigung mit dem großen Bruder Rhein wurde verlegt. Damit war die Kloake, das einstige Flüsschen, beinahe 30 Kilometer kürzer.

Doch wie alle natürlichen Ressourcen ist auch schwarzes Gold nur begrenzt vorhanden. Schon nach 200 Jahren hatten die Menschen alles aus der Erde geholt, was sie wirtschaftlich gebrauchen konnten. Die großen Anlagen verfielen oder wurden abgebaut und an Menschen in weit entfernten Ländern verkauft, die jetzt dasselbe mit den Anlagen und ihrer Umwelt machen wie die Menschen im Ruhrgebiet vor 100 Jahren. Und unser Anti-Fluss, die Kloake? Ende der 1990er Jahre werden vier Klärwerke errichtet. 2008 beginnen die Menschen mit dem Bau eines separaten Abwasserkanals entlang des Nichtgewässers und aus der Kloake wird wieder das Flüsschen – die Emscher.

Emscher

Streckenweise wurde die Emscher renaturiert, der Fluss darf wieder mäandern; es entstanden Radwege am Ufer und auf den Deichen. Dort wo einst in Dortmund-Hörde das Stahlwerk Phoenix-Ost stand ist heute ein 1,3 Kilometer langer künstlicher See entstanden – gespeist vom sauberen Wasser der Emscher. Um den See wurden Eigenheime, Gastronomie und Freizeiteinrichtungen errichtet. Langsam, ganz langsam wenden die Menschen wieder ihren Blick auf die Emscher als Gewässer.

Dieser Umbauprozess und die Rückkehr der Emscher als lebendiger Fluss wird seit 2010, dem Kulturhauptstadtjahr, von der Emscherkunst begleitet. „Kunst umsonst und draußen für jeden erfahrbar machen“ lautet das Motto. Die Künstler setzen sich mit ihren Kunstwerken „mit dem Emscher-Umbau und den damit verbunden urbanen, landschaftlichen und industriellen Transformationen im Emschertal auseinander.“ (Entdecke die Kunst, Kunst- und Radkarte) Von der heutigen Mündung bei Dinslaken bis zum Quellhof in Holzwickede sind entlang des Flusses im Laufe von drei Ausstellungen unterschiedliche Kunstwerke entstanden.
Emscherkunst 2013, Zauberlehrling, Inges IdeeManche werden nach der jeweiligen Ausstellung wieder abgebaut, andere bleiben stehen. Da ist zum Beispiel „Zauberlehrling“ (Inges Idee, 2013) in Oberhausen oder „Theater der Pflanzen“ (Piet Oudolf und GROSS.MAX 2010/2013) in Bottrop.

Die Emscherkunst 2016 umfasst das Areal zwischen dem Quellhof in Holzwickede bis zum Stadthafen in Herne. Es gibt einen hervorragend ausgeschilderten Radweg entlang der Emscher und zu den Kunstwerken der 24 Künstler. Etliche Kunstwerke sind begehbar; in einigen kann sogar übernachtet werden. Bei beinahe jedem Kunstwerk gibt ein Betreuer (m/w) bei Bedarf gern ausführliche Erklärungen zu den Werken. Die Emscherkunst 2016 läuft noch bis zum 18. September.

Emscherkunst 2016Wer sich auf den Weg macht, sollte sich auf interessante, spannende Objekte gefasst machen und für eine Radtour mehr Zeit als üblich einplanen. Unsere jährliche Radtour stand an. Sie begann für alle gut erreichbar am Bahnhof Holzwickede und enden wollten wir nach gut 50 Kilometern in Castrop-Rauxel. So war es geplant. Ich hatte den GPS-Track von der Webseite runtergeladen und problemlos erreichen wir nach 2,5 Kilometern den Emscherquellhof. Vom Radmodus wird direkt in den Fotografiermodus umgeschaltet auch wenn die Lichtverhältnisse aus fotografischer Sicht nicht optimal sind. Hier stehen schon gleich mehrere interessante Kunstwerke: die Zelte von Ai Weiwei („Aus der Aufklärung“) und das Bienenhotel „The Insect Societies (part I)“ (Henrik Håkansson). Außerdem wird Erdbeerkuchen angeboten. Der geht doch immer – wir machen unsere erste Pause. Sehr ländlich geht es weiter entlang des idyllischen Flüsschens vorbei an Pferdekoppeln, Stoppelackern und Fachwerkhäusern. In Dortmund-Aplerbeck fahren wir vorbei am historischen Amtshaus und am Haus Rodenberg. Dieses schlossartige Gebäude ist die Vorburg des heute verfallenen barocken Wasserschlosses. Im Teich davor sonnen sich einige Schildkröten auf dicken Steinen umschwommen von gewichtigen Goldfischen. Sind wir wirklich in Dortmund?!

Auf dem Radweg fahren wir weiter bis zum Phoenixsee. Hier ist alles ganz neu, teilweise noch im Bau. Direkt am See, schön platziert, steht ein Kiosk der venezianische Souvenirs anbietet. Auch er ist Kunst („Chiosco“, Benjamin Bergmann). Daneben gibt es die begehbare „cloud machine“ (Reiner Maria Matysik); ein Gewächshaus auf dem Dach eines Zwischengebäudes des Swan-Komplexes soll nachhaltige Impulse für die Verbesserung der Lebensqualität geben („Urban Space Station“, Natalie Jeremjenko) und die Skulpturen von Lucy + Jorge Orta „Spirits of the Emscher Valley“ stehen für den Wandel der Region. Auch hier halten wir uns lange auf und weil es sich anbietet machen wir gleich Mittagspause mit Blick auf den See und Segelboote. Einen kurzen Regenschauer stehen wir mit einem heißen Kaffee in der Hand trocken unter einem Hausdach aus.  Über ein Stück ehemalige Bahntrasse und verkehrsberuhigte Nebenstraßen am Rande des Westfalenparks führt der Radweg bis ins Herz Dortmunds – direkt zum Dortmunder U. Der ehemalige Gär- und Lagerkeller der Dortmunder Union Brauerei beherbergt heute verschiedene Ausstellungshäuser sowie Ausstellungsräume der Technischen Universität und der Fachhochschule Dortmund. Hier befindet sich ein Infocenter der Emscherkunst, hier können Fahrräder geliehen werden. Wir haben Fahrräder und wollen weiter. Zum ersten Mal müssen wir auf der recht befahren Straße,  teilweise mit separater Radspur, fahren. Nach gut einem Kilometer sind wir wieder an der Emscher und auf einem eigenen Radweg entlang des Flusses unterwegs. Mittlerweile ist der Himmel blau, die Sonne scheint. Nach wenigen Pedalkurbel-Umdrehungen treffen wir auf raumlabors „Zur kleinen Weile“. Wie soll ich dieses Kunstwerk beschreiben? Es sieht aus wie eine überdimensional große schwarze Zipfelmütze mit einem Loch am unteren Ende. Die Skulptur ist begehbar und durch ein kleines Loch im „Zipfel“ fällt ein Lichtstrahl. Die Akustik animiert zu eigenen Klangexperimenten. Daneben lädt die „Kunstpause“ (atelier le balto)  im Wäldchen und auf Holzstegen, umgeben von blühenden Blumen, zur Pause ein. Viel Rad gefahren sind wir heute wenig. 25 Kilometer. „Schlechter Schnitt“, meint Robert lachend. Zugegeben, das Ziel Castrop-Rauxel war zu ambitioniert. Wer nur Fahrradfahren möchte schafft das locker, wer aber die Kunstwerke „erfahren“ möchte, sollte sich nicht viel mehr als 25-30 Kilometer vornehmen. Wir jedenfalls fahren auf direktem Weg durch ein am Samstag völlig unbelebtes Industriegebiet direkt zum Dortmunder Hauptbahnhof und treten unseren Heimweg an.

Lesen Sie dazu auch meinen Reisebericht über meine erste Berührung mit dem Ruhrgebiet vor gut 20 Jahren:

Das Ruhrgebiet – wo sich Fuchs und Tauchen grüßen

Weitere Informationen: www.emscherkunst.de