Wünsdorf-Waldstadt

Die verbotene Stadt

Tief im Osten, wo die hohen Kiefernwälder rauschen, gibt’s einen verlassenen Ort, ja eine ganze verlassene Stadt! Bis zu 75.000 russische Militärangehörige waren mit ihren Familien vor gut 30 Jahren hier stationiert. Es gab sogar eine direkte Zugverbindung vom Bahnhof Wünsdorf-Waldstadt ins 1926 Kilometer entfernte Moskau. Die Soldaten gehörten zur GSSD, der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Wobei mit Deutschland die Deutsche Demokratische Republik gemeint ist. In die Stadt hinein führte eine Bundesstraße, die B96. Für Deutsche Bürger war diese Straße off limits – verboten. Sperrgebiet. Die ganze Stadt war Sperrgebiet.

Wünsdorf-Waldstadt

Erst 1994, als die Russen abzogen, der Kalte Krieg beendet und Deutschland wiedervereint war, wurde die B96 freigegeben. Die Gebäude ließen die Russen besenrein zurück: Haus der Offiziere, Kino, Theater, Fechtraum, Schwimmbad und die Kasernen der Soldaten. In den einfachen Quartieren der Soldaten sind heute Amtsgericht und Grundbuchamt eingezogen, das schlossartige Hauptgebäude und die anderen administrativen Gebäude stehen leer. Seit 28 Jahren wird ein Investor gesucht. Das Hauptgebäude wurde bereits zur deutschen Kaiserzeit 1911 errichtet. Während dieses Gebäude außen majestätisch wirkt, sieht man innen den russischen Militäreinfluss. Funktional, das Aussehen ist gleichgültig.

Haus der Offiziere, Wünsdorf
Haus der Offiziere

Die gut 600 Hektar große verlassene Stadt ist rundherum eingezäunt und videoüberwacht. Die verlassenen Gebäude können nur im Rahmen einer Führung besichtigt werden. Ich habe eine Fotoführung mit go2know gebucht. 30 schwer mit Kameras und Stativen bewaffnete Fotograf:innen treffen sich an einem Samstag im Oktober am Eingangstor zum sechsstündigen Fotomarathon. Die Einweisung durch Hendrik ist kurz; wer jedoch versucht sich zu entziehen, wird vom anwesenden Hausmeister und Wachmann mit Kommisston an die Kandare genommen. Nach dem Hinweis, dass die überall angebrachten Schilder „Betreten verboten“ für uns nicht gelten, dürfen wir ausschwärmen.

Eingang Theater
Eingang Theater

Zuerst müssen wir an dem übergroßen freundlich grüßenden steinernen Genossen vorbei: Wladimir Iljitsch Uljanow, den meisten wohl besser bekannt als Lenin.

 Wladimir Ijlitch Uljanov
Wladimir Iljlitch Uljanov

Bis vor einigen Monaten durfte der Uhrenturm des Haupthauses noch begangen werden, das geht heute leider nicht mehr, es gibt einige zu marode und damit gefährliche Stellen. Zunächst mache ich einen Rundgang durch das weitläufige Außengelände, vorbei am Haus der Offiziere mit den anschließenden Seitenflügeln mit Innenschwimmbad und Theater/Kino.

Im Haupthaus empfangen uns breite hohe Türen und ein pompöses Treppenhaus. Die Büro- und Konferenzräume dahinter sind kleiner. Nüchterner. Die Tapeten sind abgerissen, die Farbe von den Türen blättert ab. Lange Gänge mit vielen geöffneten Türen und leere Zimmer. Die Russen haben alles besenrein hinterlassen, erklärt uns der Hausmeister. Danach wurden die Räume im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme entkernt: Tapeten wurden abgerissen, Wandvertäfelungen und Fußböden entfernt. Nur einige Wandbilder sind noch erhalten. Viele Fensterscheiben sind kaputt. Eine tote Fledermaus liegt am Boden. Es ist staubig und stickig drinnen, obwohl reichlich Frischluft durch die zerbrochenen Fenster weht.

Im Theater hingegen könnte heute Abend eine Vorführung stattfinden, so hat es den Anschein. Leider wurde die Holzvertäfelung von den Wänden gerissen.

Theater
Theater

Am besten gefällt mir das Freibad. Das Becken hält immer noch Wasser. Die Ein-Meter-Sprungblöcke bröseln. Die roten Kacheln am Außenrand sind mit Moosen und Gräsern bewachsen. Rings herum haben sich Birken und andere schnell wachsende Bäume angesiedelt. Die hölzernen Umkleidekabinen könnten noch benutzt werden.

Zur Geschichte dieses Ortes: 1906 begann man mit dem Bau eines Truppenübungsplatzes. Es folgte eine Infanterieschießschule und die Errichtung eines Gefangenenlagers für 14.000 muslimische Kriegsgefangene. 1933 begann die Wehrmacht den Standort auszubauen, Wünsdorf sollte Zentrum der deutschen Panzertruppen werden. Bunkeranlagen und ein „Zieldorf für Nahkampf“ entstehen. Die Bevölkerung im nahen Zehrensdorf wurde vertrieben. Zivilisten sind unerwünscht. Nach 1945 erfolgten die Besetzung und der Ausbau durch die Russen.

Wünsdorf

Auch die Bunkerstadt und die unterirdischen Gänge können heute im Rahmen einer Führung besichtigt werden, doch das hebe ich mir für nächstes Mal auf.

Eingang zur Bunkerstadt, Wünsdorf-Waldstadt
Eingang zur Bunkerstadt, Wünsdorf-Waldstadt

Ich nehme mir vor, im nächsten Sommer wiederzukommen. Die Gegend ist flach, bewaldet mit vielen Seen, ein wunderbares Gebiet zum Radfahren und sommerfrischlern.

Wie erreicht man heute Wünsdorf-Waldstadt? Ganz einfach, es gibt eine direkte Zugverbindung mit Berlin Hauptbahnhof. Der Ort hat heute wieder etwa 6000 Einwohner:innen. Wer sich mit einem Mittagssnack eindecken möchte, wird beim Bäcker & Fleischer (im selben Verkaufsraum) fündig. Ansonsten gibt es recht wenig hier. Einen Discounter, einen chinesischen Imbiss und ein griechisches Restaurant. Eine Übernachtungsmöglichkeit finde ich 2021 nicht. Die einzige Pension ist geschlossen. So übernachte ich im sechs Kilometer entfernten Zossen, eine Bahnstation vorher. Zugegeben, wer aus Berlin kommend in Zossen ankommt, könnte erschrecken: Um den Ort zu erreichen, muss dieser wenig einladende Tunnel durchquert werden.

Bahnhofstunnel, Zossen
Bahnhofstunnel, Zossen

Ich wähle das alteingesessene Traditionshotel Weißer Schwan. Hier steht der Eigentümer noch selbst an der Rezeption und begrüßt mich freundlich. Die Zimmer sind einfach, nett, supersauber mit guten Matratzen und zweifacher Fensterverglasung. Von draußen höre ich nicht einmal die mit dem Laubpuster werkelnde Nachbarin.  Das Restaurant ist absolut empfehlenswert und – soweit ich das sehe – neben einem indischen Restaurant das einzige am Ort. Indisch kann ich auch zu Hause essen, aber gutbürgerlich brandenburgisch mit einem frisch gezapften Lausitzer Pils – das bekomme ich zu Hause nicht. Ich esse jeden Abend hier – vom großen Salatteller bis zum Steak mit hausgemachten Bratkartoffeln kann ich Euch alles empfehlen. Der Zug nach Wünsdorf fährt nur ein Mal in der Stunde, für die sechs Kilometer von Zossen nach Wünsdorf empfehle ich ein Fahrrad. Auch dieses wird vom Hotel an seine Gäste kostenlos verliehen.

Hotel Weißer Schwan, Zossen
Hotel Weißer Schwan, Zossen