Sanft wiegen die seichten Wellen unser knapp acht Meter langes offenes Motorboot hin und her. Der Außenbordmotor läuft im Leerlauf. Die 10 Passagiere haben sich auf den fünf Sitzbänken verteilt und warten. Mit ihren Augen suchen sie die Wasseroberfläche ab. Wie die kleine Gruppe im Nachbarboot. Wir sind in der mexikanischen Scammons Lagune (Baja California), die von dem amerikanischen Walfänger Charles Melville Scammon 1857 entdeckt wurde. Für Scammon war die Lagune wegen der zahlreichen Grauwale interessant – für uns auch.
In der Ferne sehen wir Blas, den feuchten Atemausstoß von Walen. Grauwale kommen zur Paarung in diese ruhigen Gewässer und bringen hier nach 13-monatiger Tragzeit ihre Kälber zur Welt. Die Paarung ist schon vorbei, jetzt, im März, sollten Mütter mit ihren Jungtieren zu sehen sein. Roberto, unser Guide, planscht mit seinen Händen im kühlen Wasser. ‚Männer und Wasser’, denke ich, ‚da werden sie wieder zu Kindern’ „Das mache ich um die Wale anzulocken“, rechtfertigt sich Roberto. Ha, ha. Man muss die Touristen ja irgendwie bei der Stange halten. Ich versuche den Blas und den finnenlosen Rücken der fernen Tiere mit dem Teleobjektiv festzuhalten. Ein schwieriges Unterfangen, denn wer weiß schon wann wo ein Wal kurz auftaucht um sofort wieder abzutauchen. Ganz schön mühsam!
Wie ich so in die Weite schaue, werde ich plötzlich und ohne Vorwarnung mit lautem Zischen und dickem Sprühnebel geduscht. Alle Mitreisenden quieken entzückt. Direkt neben unserem Bötchen ist eine Walkuh aufgetaucht. Ganz ruhig und sanft geht sie im Luv längsseits: Eine Streicheleinheit bitte! Wir fassen sie an, tätscheln ihre lederähnliche dunkelgraue Haut. Träume ich das vielleicht? Wache ich gleich in meinem Hotelzimmer auf? Nein, das ist real. Die Walkuh taucht ab und schiebt ihren gut 15 Meter langen Körper unter unserer Nussschale hindurch. ‚Wenn sie mit ihrem Rücken aus Versehen unser Boot streift rutschen wir ins Wasser’, denke ich. Wir tragen Schwimmwesten. Gut so. Aber meine Kamera ist nicht seewasserfest. Doch die Grauwalkuh weiß, was sie tut, sie ist wohl nicht zum ersten Mal hier. In Lee taucht sie wieder auf. Ihr Kopf ist dicht besetzt mit hellen Seepocken. Wahrscheinlich hofft sie, dass sie durch unser Streicheln die möglicherweise juckenden Rankenfüßer loswird. Der Weichkörper der Seepocke ist mit Kalkplättchen umgeben die eine kegelförmige Mauer um das Tier bilden. Die Bodenkalkplatte haftet dank eines natürlichen Klebstoffs derart fest, dass stärkster Epoxidharz-Klebstoff nicht mithalten könnte. So ist es für den Wal beinahe unmöglich, die Pocken abzustreifen. Während sich Seepocken von Mikroorganismen und Schwebteilchen im Wasser ernähren, sind die Walläuse, die sich zwischen den Seepocken aufhalten, möglicherweise nerviger. Sie ernähren sich von Algen und Haut; sie können auch kleine Hautschäden auf ihrem Wirt verursachen.
Das Baby ist noch beinahe seepocken- und lausfrei. Es hält sich stets an der Seite der Mutter auf und schaut ebenfalls mit etwas Abstand aus dem Wasser. In ein paar Metern Entfernung beobachtet es, wie unsere Hände den Kopf der Mutter betätscheln. Die Kuh taucht ab, nun möchte das Baby seine Streicheleinheit. Nebenbei bemerkt: Ein Grauwalbaby ist bei der Geburt schon fünf Meter lang und wiegt gut 500 Kilo. Ein ungeschicktes Kopfnicken des Babys und wir lägen im Wasser. Aber bislang ist noch kein solcher Fall bekannt – versichert unser Kapitän. Es sind sanfte Riesen, die genau zu wissen scheinen, dass wir unsere schwimmende Unterlage nicht verlassen können ohne Schaden zu nehmen. Gut 15 Minuten sind wir mit beiden Walen voll beschäftigt. Auftauchen, streicheln, abtauchen, Objektivlinse putzen, auftauchen …
Es ist unglaublich wie zutraulich die Tiere sind, dabei wurden in dieser Bucht noch vor 150 Jahren ihre Vorfahren zu Tausenden abgeschlachtet: Die bis zu 38 Zentimeter langen Barten wurden zu Korsetts verarbeitet, der Tran aus der Leber wurde als Lampenöl verwendet, zur Behandlung von Rachitis empfohlen und Kindern als Stärkungsmittel eingetrichtert. Grauwale halten sich meist in küstennahen Gewässern auf und schwimmen mit sieben bis neun Stundenkilometern recht gemächlich. Das machte sie überall zur leichten Beute. Bereits 18 Jahre nach Entdeckung dieser Bucht lohnte der Walfang hier nicht mehr. Es gab nur noch vereinzelte Tiere. Bis die Wale unter Schutz gestellt wurden, war ihre Population auf cirka 2000 Individuen geschrumpft. Während die Population im Nordatlantik seit langem ganz verschwunden ist, hat sich der Grauwalbestand hier im Ostpazifik erholt. Laut IUCN ist er auf etwa 22000 Tiere angestiegen. (Die Westpazifische Population, die in Gewässern der russischen Föderation zu Hause ist, wurde 2007 jedoch auf weniger als 30 fortpflanzungsfähige Weibchen geschätzt.) In der Scammons Lagune sind heute nur Jäger mit ihren Kameras unterwegs. Um die Wale nicht zu stressen sind maximal 13 Boote gleichzeitig in der Bucht erlaubt. Wir sehen hin und wieder Tiere von Weitem, die im Wasser „stehen“; ihr Kopf schaut senkrecht aus dem Wasser. Das Verhalten wird als Spyhopping bezeichnet. Warum machen sie das? Einige Wissenschaftler nehmen an, dass sie damit einen besseren Überblick über ihre Umgebung bekommen, andere nehmen an, dass es mit dem Gehör der Tiere zu tun hat, da das Auge häufig unter der Wasseroberfläche bleibt.
Nach gut einer Stunde kommen keine Wale mehr an unser Boot. Die Ebbe hat ihren Tiefstststand erreicht, jetzt ist das Wasser wahrscheinlich zu flach und die Kühe haben nicht mehr genug Wasser unter der Fluke um unbeschadet unter den Booten durchzutauchen. Stattdessen bekommen die Babys Schwimmunterricht. Die Mutter schwimmt mit ihrem Kalb gegen die Strömung um dann wieder zurückzukehren und erneut gegen die Strömung zu schwimmen. Fitnesstraining im Strömungskanal. Warum tut sie das? In gut einem Monat wird sie mit dem Kleinen die 6000 Kilometer lange Reise gen Norden antreten. Das Baby muss dann superfit sein, denn unterwegs lauern Gefahren. Nicht nur die Länge der Strecke ist Kräfte zehrend, vielmehr warten hungrige Orkas auf eine Mahlzeit. Orkas, oft auch als Killerwale bezeichnet, ernähren sich von Seelöwen, Delfinen, Haien, Robben und jungen Walen. Sie sind häufig in kleinen Verbänden unterwegs, während Grauwale meist allein schwimmen. Entdecken Orkas eine Walmutter mit Kalb werden die beiden so lange gehetzt bis das Kalb ermüdet und hinter der Mutter zurückbleibt. Dann ist es verloren. Nur 30% der Grauwal-Kälber erreichen die Küsten Alaskas. Warum bleiben die Mütter nicht einfach in den friedlichen Buchten der Baja California? Grauwale ernähren sich von Kleinkrebsen, Würmern und Weichtieren die sie am Meeresboden finden. In den Gewässern der Baja California finden sie nichts dergleichen. Sie hungern. Somit sind sie gezwungen in nahrungsreichere kühlere Gewässer umzuziehen. Nahrungsaufnahme ist ein gutes Stichwort für uns. Wir packen unsere Sandwiches und Burritos (gerollte Tortillas mit Fleischfüllung) aus und speisen. Umgeben von Grauwalen. Mehr als 1000 wurden in diesem Jahr in dieser Bucht gezählt. Neben der Scammon’s Lagune besuchen wir noch die Bahia Magdalena und Laguna San Ignacio.