Das Paradies. Eine Insel. Wild wachsende Papayas und Passionsfrüchte. Kokospalmen. Feiner, leuchtend reinweißer Sandstrand rings herum. Die Farbe des Meeres: satt türkis. Tagsüber 27 Grad Celsius, nachts vielleicht ein Grad weniger. Ein solches Fleckchen gibt es tatsächlich: Bird Island. Knapp ein Quadratkilometer groß. Ein Fliegenschiss im Indischen Ozean.
Die Insel ist in Privatbesitz und gehört zur Gruppe der Inneren Seychellen. Nur sechs Homo sapiens leben hier. Temporär kommen einige Touristen hinzu und etwa eine Millionen Rußseeschwalben.
Daneben gibt es ein paar Tausend Braunnoddis (eine Seeschwalbenart), Schlankschnabelnoddis, einige hundert Fregattvögel, Rotfußtölpel, Feenseeschwalben und Weißschwanz-Tropikvögel. Diese Auflistung macht sicher jedem von Euch sofort klar: Der Inselname ist Programm, Bird Island. Wer eine schicke Lodge mit Pool, Sundowner oder gar Nachtleben sucht, ist hier fehl am Platz. Du kannst am Strand liegen, Spazierengehen, im Meer baden, schnorcheln. Doch all das geht auf den anderen Inseln der Seychellengruppe auch. Wer hierher kommt, möchte in erster Linie Vögel beobachten oder die Einsamkeit genießen.
Die einzige Übernachtungsmöglichkeit ist die so genannte Eco-Lodge. Geräumige Chalets ohne Klimaanlage, mit Ventilator. Kein Fernseher, kein Telefon, aber WiFi. Jeweils zwei Chalets teilen sich ein separates offenes Küchen- und Essgebäude.
Abendessen gibt’s im Restaurant, alle anderen Mahlzeiten müssen die Gäste selbst zubereiten. Neben Grundnahrungsmitteln wie Nudeln, Eier, Gemüse, Bier und Brot gibt’s auch Sonnencreme, Kondome und Zahnpasta im Insellalden. Dieser hat täglich von 7-8 Uhr morgens geöffnet.
Der Laden sieht groß aus, das Angebot ist jedoch für Menschen, die prall gefüllte Supermarktregale mit x Sorten Joghurt kennen, eher spärlich. „Shocking“, wie es die britische Touristin aus dem Norden Londons mit einem Wort ausdrückt. Alle Güter werden mit dem Versorgungsschiff angeliefert, das alle drei Monate anlandet. Kleinere Wünsche werden auch mit dem Flugzeug gebracht, wenn Platz ist.
Strom wird durch einem Dieselgenerator erzeugt. „Warum nutzt ihr keine Solarenergie“, frage ich, „Sonne gibt’s doch satt.“ „Ja, das Warmwasser wird schon lange mit Solarenergie erzeugt; das Problem sind die Vögel. Sie sind überall und scheißen überall. Das verätzt die Panels“, erklärt mir Darrel, einer der sechs Einwohner und vogelkundlicher Experte. Trinkwasser kommt als gefiltertes Regenwasser von den Dächern der insgesamt sieben Chalets. Als Brauchwasser wird im Boden versickerter Regen genutzt; dieser ist leicht salzhaltig und zum Trinken ungeeignet.
Für Touristen ohne eigenes Boot ist das Flugzeug die einzige Möglichkeit auf diese Insel zu gelangen – jeweils montags und freitags. Die Landepiste ist einen Kilometer lang, längs über die Insel.
Bevor ich in das Kleinflugzeug am Flughafen der Seychellen-Hauptinsel Mahé einsteigen darf, wird alles gewogen:
- Mein Gepäck: 12 Kilo (ich hab’ ein Stativ eingepackt)
- Mein Handgepäck: 6 Kilo (Kameraausrüstung)
- Ich: bleibt mein Geheimnis
Maximal sind 15 Kilo Gesamtgepäck erlaubt. 12 + 6 = 15 … Nein, eher nicht. Jetzt hab’ ich wohl ein Problem und bereite mich seelisch darauf vor, mein Stativ zurückzulassen. (Es gibt eine Gepäckaufbewahrung, ich bin nicht die Einzige mit Übergepäck). Der Herr am Check-In wackelt mit dem Kopf, tippt etwas in seinen Computer, lächelt und reicht mir die Bordkarte. Glück gehabt! Nun geht alles sehr schnell. Nach der Sicherheitskontrolle werde ich als Einzige in einen Kleinbus gesetzt und zum Ende der langen Start/Landebahn gefahren. Hier steht ein Kleinflugzeug bereit.
Ich steige ein und bemerke, dass mein großes Gepäck auf der Rückbank liegt. Es okkupiert zwei von vier Passagiersitzen. Der Platz neben mir bleibt leer. Ich bin allein. Ich kann es kaum fassen – ich habe quasi einen Privatflug! 30 Minuten sind wir in der Luft, gut 100 Kilometer liegt Bird Island von entfernt.
Vier Nächte bleibe ich. Die Insel ist, im Gegensatz zu den anderen Inneren Seychellen-Inseln, herrlich flach. Es ist eine Koralleninsel.
1771 wurde von einem vorbeifahrenden Schiff berichtet, dass die Insel „mit unzähligen Vögeln bedeckt“ sei. Als die jetzigen Besitzer die Insel 1967 erwarben, waren die Natur und ihre empfindliche Umwelt in Vergessenheit geraten, und die „unzähligen“ Vögel waren nur noch am nördlichsten Ende der Insel anzutreffen. Was war geschehen? Zwischen 1896 und 1906 wurden 17000 Tonnen Guano von der Insel abgebaut und als Dünger für die Zuckerrohrfelder von Mauritius exportiert. Danach wurde eine Kokosplantage angelegt, auf der zusätzlich Papaya und Baumwolle angebaut wurden. Das rentierte sich irgendwann nicht mehr.
Seitdem sich Bird Island in Privatbesitz befindet, hat sich viel geändert. Es ist wieder eine Insel der Vögel geworden. Der Mensch ist Besucher und wird toleriert.
Auf dem Weg von meiner Unterkunft zum Strand durchquere ich einen schmalen Waldgürtel. Eine Landkrabbe flieht eilig vor meinen Füßen. Die Stielaugen kann sie bei Bedarf sogar einklappen.
In den Bäumen am Ufer sitzen, hoch oben, einige Rotfußtölpel. Die beinahe flüggen Jungtiere warten auf ihre Eltern, die meist kurz vor Sonnenuntergang mit Futter vom Meer zurückkehren. Ich finde es leicht skurril, wie diese Wasservögel mit ihren Schwimmfüßen auf den dünnen Ästen hocken. Diese Bäume teilen sich die Tölpel mit Fregattvögeln. Dabei sind es ihre Feinde. Fregattvögel sind die Piraten der Lüfte, sie jagen den anderen Vögeln, besonders Tölpeln, ihre Beute ab. Fregattvögel haben kein wasserabweisendes Gefieder und meiden daher den Kontakt zu Meerwasser. Selbst fischen können sie nicht. Sie sind elegante wie gewandte Flieger, sogar das Gefieder wird in der Luft geputzt.
Am Sandstrand sind Krabben sehr aktiv.
Während die Gehörnten Geisterkrabben der Hauptinseln beim Ausbau ihres unterirdischen Baus darauf achten den Aushub halbkreisförmig um den Eingang zu verteilen, türmen die Geisterkrabben von Bird Island wahre Sandberge auf, manche sind vier Mal so hoch wie ihr Körper lang ist.
Am nördlichen Ende erwartet mich der Höhepunkt: die Kolonie der Rußseeschwalben. Die Jungtiere können größtenteils bereits fliegen, halten sich aber immer noch am Boden auf und üben. Sie sind von den adulten Tieren gut zu unterscheiden, denn sie haben ein weitestgehend dunkles Gefieder. Auch hier kehren gegen Abend die erwachsenen Tiere in die Kolonie zurück, um das Küken – es ist immer nur eins – zu versorgen. Ich bin überwältigt. Es sind Hunderttausende. Heute. 2024.
Um 1970 waren es etwa 18000 Paare. Davor noch weniger. Feinde wie Ratten und Katzen gibt es auf Bird Island nicht, aber Menschen. Die Eier der Rußseeschwalbe sind eine beliebte Delikatesse der Seychelloise. Sie wurden regelmäßig „geerntet“. Das war relativ einfach, denn Rußseeschwalben brüten am Boden, die Nester liegen praktischerweise dicht beieinander, nur eine Schnabellänge entfernt. Da das Einsammeln auf kommerzieller Basis mit Booten von Mahé aus erfolgte, sind die Zahlen bekannt. Der offizielle Spitzenwert wurde 1931 erzielt: 10 Millionen Eier! (Nicht alle kamen von Bird Island, auf anderen Seychelleninseln gab es ebenfalls Kolonien, die zum Teil jedoch durch das gnadenlose Einsammeln aller Eier und Habitatverlust vernichtet wurden.) Bis 2021 war das Einsammeln der Eier erlaubt, aber über Quoten geregelt. In manchen Jahren wurden die Quoten jedoch nicht erreicht, weil es nicht (mehr) genügend Eier gibt.
Jeden Tag meines viertägigen Aufenthaltes laufe ich zu den Rußseeschwalben und schaue zu wie die Jungvögel Fliegen üben, um Futter betteln, die Altvögel vom Meer zurückkehren. Mittags schaffe ich es sogar Vögel im Flug zu separieren und einzeln zu fotografieren; gegen Nachmittag gelingt das nicht mehr. Die Luft ist voller Vögel. Selbst mit einer Profikamera ist es schwierig perfekte Flugaufnahmen zu machen. Rußseeschwalben fliegen unglaublich schnell und so besteht manches Foto aus mehreren halben Vögeln.
Die Feenseeschwalben im Waldgürtel sind ebenfalls fast flügge. Sie wurden in einer Astgabel geboren, ein richtiges Nest bauen die Eltern nicht. Jetzt sitzen die Jungen auf einem Zweig und schauen einigermaßen interessiert ihren Eltern zu. Beide adulten Vögel versuchen das Kleine zum Fliegen zu animieren, indem sie zeigen wie die Flügel bewegt werden sollen. Zur Animation rufen und locken sie ständig.
Dann sind da noch die Noddis, ebenfalls eine Seeschwalbenart. Sie sind zahlreich über die gesamte Insel verteilt. Die Braunnoddis brüten am Boden, die Schlankschnabelnoddis bauen ein fragmentarisches Nest im unteren Bereich der küstennahen Bäume. Noddis haben keine spezifische Brutsaison, so sehe ich Noddis die mit Nestbau beschäftigt sind, Küken im fluffigen Federkleid und beinahe flügge Jungtiere die ständig um Futter betteln.
Die Küken der Tropikvögel sind noch klein. Das einzige Junge sitzt in einem Nest am Fuß eines Baumes und verhält sich ruhig. Eine gute Strategie um von Feinden aus der Luft nicht gesehen zu werden. Doch für die vom Menschen eingeschleppten Katzen und Ratten sind sie leichte Beute. Tropikvögel gibt es daher nur noch an Orten, die katzen- und rattenfrei sind. Für die Rattenbekämpfung auf Bird Island kam vor vielen Jahren extra ein Experte aus Neuseeland, der seine Aufgabe erfolgreich beendete.
Ich trete aus dem dunklen Waldstück heraus und sehe am gleißend hellen Sandstrand eine lebhafte Gruppe Steinwälzer. Sie gehören zu den Schnepfenvögeln. Euphorisch halte ich sofort drauf mit der Kamera; Steinwälzer habe ich bislang noch nicht gesehen. Allerdings hatte ich vergessen, die Belichtungseinstellungen zu verändern – ein dunkler Wald benötigt eine andere Belichtung als ein heller Strand. Die Displaykontrolle zeigt ein völlig überbelichtetes Bild. Schade. Oder, vielleicht doch gut.
Mir gefällt das überbelichtete Foto viel besser als das „richtig“ belichtete, das ich später mache.
Außer Natur gibt es nichts auf dieser Insel und so wird das Auge auch für Tiere empfänglich, an denen ich normalerweise sehr schnellen Schrittes vorbeigehe: Spinnen. Seidenspinnen haben sich auf Bird Island besonders zwei Bäume ausgesucht. Diese sind voll mit ihren überaus stabilen Netzen und Tieren aller Größen. Ich halte Abstand. Ich beobachte ein beinahe handtellergroßes Exemplar bei der Ausbesserung des Netzes. Eine vergleichsweise winzige Spinne pirscht sich von hinten an. „Die ist ja ziemlich mutig“, denke ich. Erst später lese ich, dass es sich wohl um das Männchen handelt.
Dann sind da noch meine speziellen Freunde: die Aldabra-Riesenschildkröten. 19 Tiere laufen frei auf der Insel umher, jede scheint ihr Territorium zu haben. Der Älteste, Esmeralda, wird auf mehr als 200 Jahre geschätzt und gilt damit als älteste lebende Aldabra-Riesenschildkröte. Er, es ist entgegen seines Namens, ein Männchen, liegt meist unfotogen im Schatten. Sam, ein Jungspunt von etwa 50 Jahren, hält sich dagegen gern im so genannten Village bei den Häusern mit den vielen Blumen auf. Er mag Sonnenblumen. Natürlich versuchen die Menschen alles, um ihre Blumen zu schützen, aber manchmal schafft er es doch einen Topf mit seinem hundert Kilo schweren Körper umzustürzen – Blumen schmecken wohl besser als Gras. Gefressen wird im Liegen.
Riesenschildkröten lieben es, am Hals und zwischen den Beinen gekrault zu werden. Ich habe es gleich am ersten Tag ausprobiert – eine recht raue, ledrige Angelegenheit. Aber ich hatte sofort einen Freund. Wann immer ich mich Sam nähere hört er auf zu fressen
und stemmt seinen schweren Körper auf die Beine, in freudiger Erwartung einer Striegeleinheit. Warum er sich vorher fotografieren lassen muss, hat er wahrscheinlich nicht verstanden.
Vier Tage Aufenthalt waren für mich viel zu kurz, ich wäre gern länger geblieben. Ich bin bei Ebbe am Strand ein Mal um die Insel gelaufen, aber ich habe es nicht geschafft, alle Waldwege abzulaufen. Ich werde wiederkommen an diesen außergewöhnlichen schönen Rückzugsort mitten im Indischen Ozean.