2:30 Uhr. Wir stehen am Kai von Uig. Mitten in der Nacht. Eigentlich sollte es gegen 9 Uhr losgehen. Humane Zeit. Doch schlechtes Wetter ist vorhergesagt. So stehen wir hier. Schlaftrunken. In der Dunkelheit.
Vier Stunden später. Geschafft! Es ist der dritte Versuch von meinem Mann und mir und der ist tatsächlich erfolgreich. Nach ziemlich schaukliger Fahrt mit dem Schnellboot verbunden mit ungewolltem Fischefüttern meinerseits, setzen wir unsere Füße zum ersten Mal auf den Boden von Hirta. Hirta ist die Hauptinsel des St. Kilda Archipels und mit 8,5 km² ist das Eiland kaum größer als Wangerooge. Mit Wangerooge hat die Insel jedoch nur die Größe gemein. Hirta besteht in erster Linie aus steilen, grünen Hügeln, schroff abfallenden Klippen und Grasland. Ein kleiner Sandstrand ist bei Ebbe sichtbar.
Die ersten Bewohner kamen vor gut 2000 Jahren. Wieso ist dann die Insel für uns heute mit all unseren technischen Errungenschaften so schwer erreichbar? Es ist das Wetter, insbesondere der Wind und dessen Richtung.
Geologisch ist der St. Kilda Archipel der Rest eines Ringvulkans aus dem Tertiär, wobei die rauen Wetterverhältnisse mitten im Atlantik einen großen Anteil an der Verwitterung des Gesteins haben. Die Inselgruppe wird geographisch zu den Äußeren Hebriden gezählt. Mit einem Schnellboot wird St. Kilda von Uig (Skye) oder Leverbourgh (Lewis & Harris) angefahren. Geankert wird in der Bucht von Village Bay; die Passagiere werden mit Schlauchbooten an Land gebracht. Es gibt nur Tagesausflüge; doch weht der Wind aus der falschen Richtung, oder sind Meereshebungen von fünf Metern und mehr vorhergesagt, können die Boote nicht in der Bucht von Hirta ankern. Ist somit kein Landgang möglich wird die Fahrt storniert. Zwei Mal ist uns das schon passiert. Obwohl sich allein schon der Besuch und der Blick vom Boot auf die kleineren Inseln und Felsnadeln, die zu St. Kilda gehören, lohnt.
An den Klippen von Boreray und den vorgelagerten Felsnadeln Stac an Armin und Stac Lee brüten 60.000 Paare Basstölpel; nach Wikipedia ist es die größte Kolonie weltweit! Insgesamt brüten mehr als eine Millionen Vögel auf St. Kilda. Die Luft ist voller Vögel. Hat ein Basstölpel Pech wird er von Raubmöwen (Skuas) überfallen und so lange am Hals gepackt bis er seinen Fang auswürgt. Dann stürzen sich die Skuas drauf, der Tölpel muss auf’s Neue Futter für sein Jungtier suchen und hoffen, dass er beim nächsten Mal keinen „Piraten“ zum Opfer fällt.
Hirta hat die höchsten Kliffs Großbritanniens. Auf ihnen brüten Tausende von Papageitauchern. Sie fischen nach Sandaalen in Küstennähe, so dass es im Wasser unterhalb der Kliffs nur so wimmelt von diesen flinken Vögeln, die aussehen wie Minipinguine mit buntem Schnabel. Kommt ihnen das Boot zu nah, tauchen sie einfach ab oder flüchten in die Luft.
Wer es schafft auf Hirta zu landen wird mit betörendem Gesang begrüßt: Der St. Kilda Zaunkönig (Troglodytes troglodytes Hirtensis) trällert auf einem Stein sitzend was das Zeug hält. Dieser Zaunkönig ist etwas größer als sein Verwandter auf dem Festland. Er ist endemisch; er kommt nur auf dieser Insel vor. Man schätzt, dass es etwa 230 Paare gibt.
Neben dem Zaunkönig gibt es im Bereich des ehemaligen Dorfes noch eine ganze Reihe anderer Vögel zum Beispiel Schnepfen, Steinschmätzer, Wiesenpieper, Austernfischer und Eissturmvögel.
Doch damit nicht genug. Die Wiesen sind voller Schafe. Soayschafe. Die Tiere haben braunes Fell und sind recht klein geraten, aber sehr robust. Geschoren werden müssen sie nicht, sie reiben sich ihre Wolle selbst an den vielen Steinen ab. Soayschafe gelten als Vorgänger unserer Hausschafe und wurden entweder von Steinzeitmenschen oder Wikingern auf der Nachbarinsel Soay ausgesetzt. Daher stammt ihr Name. 1950 wurden einige Tiere von Soay nach Hirta gebracht und hier vermehren sie sich seither prächtig. Sie leben wild und eigenständig auf der Insel. Nur ein Mal im Jahr werden sie von Freiwilligen zusammengetrieben um sie zu markieren. So können Wissenschafter genau verzeichnen wie hoch die Population ist und wie sie sich zusammensetzt. In manchen Jahren kommt es zu enormen Einbrüchen in der Population. Dann werden die meisten Lämmer tot geboren. Der Grund dafür ist unklar – Weidefläche, sprich Futter wäre genug vorhanden. Soayschafe sind ebenfalls endemisch, beinahe jedenfalls. Einige Tiere wurden nach Großbritannien und Deutschland gebracht, als genetische Sicherung, für den Fall, dass auf Hirta alle Schafe verenden. Der Bestand auf Hirta liegt zwischen 600 und 1700 Individuen.
Als weitere endemische Art lebt auf Hirta die St.-Kilda-Feldmaus (Apodemus sylvaticus hirtensis). Sie ist etwas größer als ihr Verwandter auf dem Festland.
Einst gab es auch die St Kilda Hausmaus – diese ist jedoch ausgestorben. Sie ging mit den Bewohnern und diese verließen 1930 die Insel. Auf eigenen Wunsch. Bis zu 180 Einwohner zählte die Insel zu ihren besten Zeiten. Die Menschen lebten von den Seevögeln, die sie auf abenteuerlichste Weise zu Tausenden fingen. Das Fleisch war Nahrung, der Tran lieferte Licht und Wärme und mit den Federn bezahlten sie ihre Pacht. Hirta gehörte den auf Skye ansässigen McLeods. Die Einwohner arbeiteten gemeinsam. Sie kannten keinen Krieg und kein Geld – bis die ersten Touristen im 19. Jh. kamen. Eingeschleppte Krankheiten, hohe Säuglingssterblichkeit und entbehrungsreiche Winter dezimierten die Bevölkerung. So wurde ihnen unter anderem das Düngen der Kartoffel- und Zwiebelfelder mit den Knochen der Seevögel zum Verhängnis. Knochen von Seevögeln sind mit Blei und anderen Schwermetallen angereichert; der Ackerboden ist heute verseucht.
Nach dem Ersten Weltkrieg verließen die meisten jungen Männer die Insel. Zum Schluss lebten nur noch 36 Einwohner auf der Hirta. Zu wenig um genügend Arbeitskraft für die Eigenversorgung zu haben. Die Menschen wurden auf das schottische Festland evakuiert und verdienten ihren Unterhalt zum Beispiel als Waldarbeiter – obwohl sie vorher noch nie einen Baum gesehen hatten. Der St. Kilda Archipel war wahrscheinlich schon immer baumlos.
Heute gehört der St. Kilda Archipel dem National Trust for Scotland. Außerdem ist die Inselgruppe sowohl Natur- als auch Kulturwelterbestätte der UNESCO. Die einzige in Großbritannien und eine von weltweit 36.
Wir sind mit einer kleinen Gruppe von Amateurfotografen unterwegs und dürfen vier Nächte auf Hirta bleiben. Wir übernachten in einem der Häuser, die 1930 verlassen wurden. Sechs von ihnen sind heute restauriert und dienen Wissenschaftlern (und uns) als Unterkunft.
Wir schlendern über The Street – entlang dieses Weges sind die Wohnhäuser aufgereiht. Vor jedem steht ein Schild mit dem Namen seiner ehemaligen Bewohner und der heutigen Funktion. Das Wetter auf St. Kilda ist jetzt, im Hochsommer, mal so mal so: Regen, Nebel, Sonne, Wind und in der Sonne können auch schon mal 20°C erreicht werden.
Übersät ist der Hang von Village Bay mit so genannten Cleits. 1260 an der Zahl. Es handelt sich um fensterlose steinerne Lagerhäuser; der Eingang befindet sich meist auf der Leeseite. Das Dach besteht aus Grassoden. Heute ruhen Schafe bei Regen in den Cleits und auf den Dächern rasten Eissturmvögel, Austernfischer und Schnepfen. Früher wurden mit Torfasche bedeckte Eier hier gelagert neben Heu, Kartoffeln, Getreide. Durch die Steinmauern wehte der ständige Wind, so dass immer eine ausreichende Belüftung garantiert war. So konnten Lebensmittel konserviert werden ohne sie zu salzen oder zu räuchern. Ach ja, Cleits gibt es nur auf dem St. Kilda Archipel.
Während Tagesausflügler nur wenige Stunden auf Hirta verbringen, haben wir Zeit genug um auch ein paar Wanderungen zu unternehmen. Doch egal in welche Richtung wir wandern, wir müssen zunächst den grasbewachsenen Berg hinauf, ziemlich steil hinauf. Oben wartet dann ein weiterer Hang genauso steil hinab oder senkrecht abfallende Klippen. An diesen Klippen nisteten einst Tausende von Seevögeln, die von den männlichen Bewohnern aus den Nestern geangelt wurden um sie zu verspeisen. Heute werden die Vögel nur noch mit Kameras „gejagt“ – sie stehen unter strengem Schutz.
Für Nachahmer: Marcus McAdam Photography