„Wie hast Du von Lundy gehört,“ fragt mich Sally, eine sportliche Mitt-50erin aus Porthmouth. „Ich mache jedes Jahr hier Urlaub, aber jemand aus Deutschland, ist mir hier noch nie begegnet.“ Diese Frage beantworte ich ihr gern. Als ich vor vielen Jahren auf meiner Wanderung auf dem South-West-Coast-Path durch Ilfracombe im Norden Devons kam, sah ich ein Ausflugsplakat vom Landmark Trust „Vogelbeobachtung auf Lundy“. Im weiteren Wanderverlauf entlang der Küste hatte ich die Insel als Silhouette am weiten Horizont einige Stunden vor Augen und schrieb sie direkt auf meinen mentalen Plan für die nächsten Jahre. Im Oktober 2018 wollte ich dann endlich für Mai 2019 buchen. Dieses Zeitfenster war ziemlich naiv. Die Insel hat zwar etliche Übernachtungsmöglichkeiten in unterschiedlich großen Häusern und Wohnungen, aber nur für etwa 100 Gäste. Alles war ausgebucht. Also buchte ich eine Wohnung für zwei Personen für Mai 2020. So lang im Voraus hatte ich noch nie eine Reservierung getätigt, aber was soll schon passieren, dachte ich, es ist noch vor dem Brexit und falls in China ein Sack Reis umfällt, tangiert mich das für Lundy nicht. Mai 2020. Wie hätte ich ahnen können, dass es mich betreffen wird, wenn in China jemand hustet?? Ich verschob auf Mai 2021 – doch Deutschland war bis Juni 2021 im Reise-Lockdown und ich im heimischen Garten.
Mai 2022. Ich kann es kaum fassen. Ich stehe tatsächlich zusammen mit meinem Mann am Kai im Hafen von Ilfracombe und warte auf das Boarding der MS Oldenburg. Zum Zeitvertreib lese ich über den Werdegang des Schiffes mit dem deutschen Städtenamen: Es ist Jahrgang 1958, wie ich, und brachte bis 1982 Gäste vom deutschen Festland nach Wangerooge. Mich trifft ein Schlag: Ich war um 1970 auf Wangerooge – das bedeutet, ich bin mit genau diesem Schiff schon unterwegs gewesen – vor 52 Jahren! Die Welt ist so klein.
Unser Gepäck, gelabelt mit dem Namen unserer Unterkunft, schwebt im Holzcontainer auf das Schiff, während wir auf Einlass warten.
Die Sonne scheint, doch es ist windig, die See ist recht unruhig und der Kahn schaukelt in mindestens acht verschiedene Richtungen. Ich trage zwar meine Akkupressurbänder, die mir auf der Fahrt nach Helgoland gute Dienste leisteten, hier versagen sie jedoch nach 45 Minuten. Ich bin heilfroh, als wir nach zwei Stunden Fahrt wieder festen Boden unter den Füßen haben und gehe als Erste von Bord.
Lundy ist ein großer Felsbrocken im Bristolkanal. Ringsherum sind nur steile Klippen. Eine breite, unbefestigte Fahrstraße führt auf den Felsen hinauf. Waren und unser Gepäck werden mit dem Traktor hinaufgefahren; Menschen mit Handicap im Landrover. Weitere Autos gibt es nicht.
Oben ist die Insel weitestgehend flach. Wir marschieren – wie die meisten der 200 anderen Passagiere auch – direkt ins Dorf zur Taverne. Hier gibt’s ein leichtes Mittagessen und frisch gezapftes Old Light Golden Ale für meinen Kreislauf. Die Sonne scheint bei 15 Grad, die meisten sitzen draußen auf dem Picknickplatz.
Lundy, einst ein Piratennest und später in Privatbesitz, gehört heute dem National Trust und wird vom Landmark Trust unterhalten und bewirtschaftet. Die Organisation hat die alten Natursteinhäuser restauriert und mit antiken Möbeln ausgestattet. So gibt es Übernachtungsmöglichkeiten verschiedenster Größen und Ausstattungen unter anderem im ehemaligen Farmhaus, der Burg, dem alten Leuchtturm, der Kirche, der Schule und der Villa des Vorbesitzers. Bis auf ein Haus sind alle mit modernen Annehmlichkeiten wie fließend warmes Wasser, Heizung und Strom (bis Mitternacht per Generator) ausgestattet. Wer möchte, kocht in der gut bestückten Küche selbst oder geht zum Essen in die Taverne. Diese bietet morgens ab 8:30 Uhr Frühstück an. Ein kleiner Lebensmittelladen verkauft alles für den täglichen Bedarf. Lundy hat sogar eine eigene Briefmarke.
Während gegen 16 Uhr die Tagesgäste die Insel wieder verlassen, beziehen wir unsere urgemütliche Wohnung im Old House North, einem Teil des ehemaligen Farmhauses. Sowohl vom Wohn- als auch vom Schlafzimmer blicken wir hinaus auf’s Meer. Es gibt ein mit Büchern aller Art prall gefülltes Regal (vom Vogelbestimmungsbuch über Bücher zur Geschichte Lundys bis hin zu Michael Crichton Krimis) dazu eine Holztruhe voll mit einer guten Auswahl an Gesellschaftsspielen. Nach zwei Tagen müssen wir umziehen in die Bramble Villa (nachgebaute Villa des ehemaligen Eigentümers der Insel), ganz anders, aber genauso schön mit eigenem Picknickplatz.
Nur einen Fernseher gibt es nicht. W-Lan, Internet oder einfach nur Handyempfang – Fehlanzeige. Brauchen wir das? Nein! Genau das macht Lundy aus. Ruhe. Natur pur. Einfach da sein. Genießen. Die MS Oldenburg kommt nur an drei Tagen in der Woche, die restliche Zeit sind die 28 ständigen Bewohner und die Übernachtungsgäste unter sich. Wo kommt das Trinkwasser her, wo geht der Müll der Touristen und Bewohner auf dieser kleinen Insel hin? Müll wird noch auf der Insel von Hand sortiert und dann zum Festland gebracht. Deponiemüll wird dort entsorgt während recyclefähiges Material verkauft wird.
Das Trinkwasser wird in der Regel aus Regenwasser gewonnen und dank einer Investition von einigen Millionen Pfund in der eigenen Wasseraufbereitungsanlage aufbereitet, deren Kapazität 2022 erhöht werden soll. Im Sommer wird nach Aussage des Wardens das Wasser regelmäßig knapp; Duschen und das Betätigen der Toilettenspülung muss dann auf das Nötigste reduziert werden. Im Jahr davor musste sogar der Campingplatz auf Grund von Wasserknappheit geschlossen werden. Wenn das Trinkwasser knapp wird, wird Teichwasser für die Spülung der öffentlichen Toiletten im Dorf verwendet, das sieht dann ziemlich braun aus.
Es gibt noch einen aktiven Landwirt auf Lundy; er züchtet Schafe. Ihre Wolle wird zum Teil kommerziell vermarktet, ein kleiner Teil bleibt auf der Insel für die eigenen Nadelfilzwerkstätten. Die große Herde wollig weißer Mutterschafe mit ihren Jungtieren sind wunderbare Fotomodelle für mich. Die meisten der Kleinen werden jedoch nur ein Jahr alt – dann werden sie zum Schlachthof auf’s Festland gebracht.
Wir machen einen Spaziergang zum alten Leuchtturm unweit des Dorfes. Dieser erste Leuchtturm auf der Insel war eine Fehlkonstruktion. Noch heute ist er der höchstgelegene Leuchtturm Großbritanniens und genau das ist sein Problem. Sein Licht leuchtete häufig über dem Nebel und konnte damit seinen Zweck, Seefahrer bei schlechter Sicht zu leiten, nicht erfüllen. So ist der Turm heute für Touristen geöffnet. Wir steigen die steilen Stufen hinauf und werden oben – wo einst das Licht untergebracht war – von zwei Liegestühlen empfangen. Zum Sonnenaufgang könnte das gut sein, aber die Sonne geht im Mai schon um 5:12 Uhr auf. Das ist doch etwas früh.
Rund 135 Schiffswracks liegen vor Lundys Küste. Ganz schnell wurden zwei weitere Leuchttürme gebaut, einer im Norden, der andere im Süden. Beide liegen knapp oberhalb der Wasserkante und sind nur wenige Meter hoch. Der Nordleuchtturm wurde 1897 gebaut und ist noch heute in Betrieb, vollautomatisch.
Die gut vier Kilometer bis zum Nordleuchtturm laufen wir bequem auf dem breiten Fahrweg.
Unterwegs treffen wir auf eine Gruppe Hochlandrinder, die entspannt grasen und sich mit vollem Genuss an den Wegsteinen scheuern. An Besucher sind sie gewöhnt und lassen sich nicht stören, allerdings gehen sie auch stur ihren angestammten Weg und sollte ein Fotograf im Weg sitzen wird er gnadenlos verdrängt.
Soay-Schafe weiden ebenfalls auf Lundy. Diese Schafrasse ist endemisch auf dem Sankt Kilda Archipel (Äußere Hebriden). Aus Angst, dass eine Seuche alle Schafe dieser Rasse auf einen Schlag dahinraffen und damit ausrotten könnte, hat man eine Gruppe auf Lundy ausgesetzt. Hier weiden sie frei meist in kleinen Familienverbänden. Anders als die Hochlandrinder sind sie recht schreckhaft und ergreifen schnell die Flucht. Warum sind sie so ängstlich, fragen wir uns, sie haben doch auf dieser Insel keine Feinde! Doch, den Menschen. Ein Mal pro Jahr kommt ein qualifiziertes Team vom Festland, das ausgesuchte Soayschafe jagt und schlachtet. Ihr Fleisch wird dann auf der Insel zum Verzehr angeboten – sie verlassen Lundy nie, weder lebendig noch tot.
Nach unserem Plan wollten wir auf einem Trampelpfad am Hang der Westküste zurücklaufen, doch der Wind weht so heftig von dieser Seite, dass ich Mühe habe, mich auf den Beinen zu halten. So bleiben wir auf dem breiten und weniger windigen Fahrweg in der Inselmitte. Eine Herde Lundyponys grast entspannt aber aufmerksam am Wegrand.
Wie wir den Ponys ein Stück folgen sehen wir plötzlich merkwürdige Metallstücke verstreut zu unseren Füßen am Boden liegend. Es sind die kläglichen Reste eines abgestürzten Bombers aus dem 2. Weltkrieg. Solche Dinge entdecken Besucher:innen eher zufällig; es gibt auf Lundy weder Wegweiser noch Schilder wie „dies ist eine Heinkel“. Es ist Teil der Besuchsphilosophie – alles soll so ursprünglich und natürlich wie möglich bleiben. Besucher:innen sollen selbst auf Entdeckungstour gehen.
Auch der Südleuchtturm oberhalb des Schiffsanlegers ist noch in Betrieb. 1994 wurde er vollständig automatisiert und wird mit Solarenergie betrieben.
Da mir die Insel als Vogelinsel angepriesen wurde, hatten wir jede Menge Seevögel erwartet, aber die sind rar. Dafür leben in dem kleinen Eichenwäldchen an der windgeschützten Ostseite etliche Singvögel. Um kleine Singvögel gut abzulichten habe ich nicht die passende Fotoausrüstung, aber ein Rot- und ein Schwarzkehlchen verhielten sich sehr kooperativ und zeigten wenig Scheu.
Begleitet von ihrem Gesang laufen wir auf einem Pfad am dicht mit grünem Farn bewachsenen Hang unterhalb des Dorfes entlang.
Wir sehen auch eine kleine, wild lebende Herde Sikahirsche. Sie beäugen uns aufmerksam und verziehen sich eilig in höhere Regionen. Ähnlich wie Soayschafe werden auch sie bejagt und verspeist. Es sind Nutztiere. Wie die Soayschafe wurden auch die Sikahirsche und verwilderte Ziegen von Menschen auf der Insel ausgesetzt. Sie haben keine natürlichen Feinde; ihr Bestand muss daher reguliert werden. Die Zahl der grasenden Pflanzenfresser muss niedrig gehalten werden, da sie sonst die spärlichen Wälder und Wildblumenbestände zerstören würden. So wird jährlich eine Zählung durchgeführt und entsprechend entschieden wie viele Tiere aus welcher Altersgruppe und welchen Geschlechts getötet werden dürfen beziehungsweise müssen.
Nach etwa zwei Kilometern erreichen wir den ehemaligen Steinbruch. Die hier gehauenen Steine wurden per Schiene transportiert und in den Ort gebracht. So sind fast alle Häuser in einheitlichem grauen Lundy-Granit gebaut.
Vier Nächte bleiben wir auf dieser Insel und schaffen es am letzten Tag auch den Trampelpfad im Westen zu wandern. Heute ist es beinahe windstill und sonnig. Diese Seite der Insel ist schroff und steil, die Vegetation ist eher spärlich, teilweise sind ganze Hangstücke abgerutscht. Wir starten an der Burg und laufen etwa zwei Kilometer bis zur Half Wall und hinunter zur so genannten Battery; hier war einst ein Nebelhorn angebracht.
Auf dem Wasser, tief unter uns, schwimmen einige Tordalken und ein Grüppchen Papageitaucher. Wegen der Papageitaucher sind wir gekommen. Der Name Lundy leitet sich vom Normannischen lund-ey ab, was soviel bedeutet wie Insel der Lunde (=Papageitaucher). Das war einmal. Tatsächlich sehen wir genau ein Exemplar im Hang stehen. Er steht vor der Bruthöhle und fliegt dann zur Futtersuche auf’s Meer. Früher gab es eine große Kolonie Papageitaucher, doch die auf der Insel eingeschleppten Ratten verspeisten die Eier und die Küken, so dass am Schluss nur noch ein Papageitaucher gesichtet wurde. Die Ratten gelten seit 2006 als ausgerottet. Laut Wikipedia ist die Zahl der Papageitaucher auf 375 gestiegen. Das ist recht übersichtlich. Im Wesentlichen ernähren sich Papageitaucher von Sandaalen – vielleicht gibt es davon im Bristolkanal nicht (mehr) so viele.
Für Nachahmer: Lundy ist mit 4,25 km² etwas größer als Neuwerk (3,3 km²). Dienstags und donnerstags fährt die MS Oldenburg von Ilfracombe, samstags von Bideford nach Lundy. Weitere Infos und Fahrpläne gibt’s über den Landmark Trust und das Lundy Shoreoffice.