Von einer die auszog Felsenpinguine zu fotografieren
Sie sind weg. Alle. Kein Felsenpinguin weit und breit. Weder Küken noch Erwachsene. Nur ein paar Kadaver liegen verstreut wie auf einem Schlachtfeld auf dem Boden. Vor fünf Jahren gab es hier auf Saunders, einer im westlichen Teil des Falklandarchipels gelegenen Insel, eine große Kolonie mit einigen Hundert der possierlichen Pinguine mit den gelben Pinseln am Kopf. Sie hatten sich hoch über dem Meeresspiegel unter die Blauaugenscharben gemischt und gebrütet. Was ist passiert? Mein Mann und ich fragen David Evans, den Besitzer der Insel: „ Es sind die Johnny Rooks! Die gehen an alles was kleiner ist als sie um damit zu spielen und um es zu zerstören!“ Johnny Rook? Was für ein übler Zeitgenosse ist das denn? Um welche Raubtierart handelt es sich? Zoologisch geht es um den Falklandkarakara, einen etwa 60 cm großen Greifvogel aus der Familie der Geierfalken. Er ernährt sich im Wesentlichen von Aas, nimmt aber auch Insekten und Pinguinküken. Zum Teil rotten sich jugendliche Vögel in Gruppen zusammen und attackieren alles was sich bewegt. Der Name Johnny Rook steht im Englischen für Dieb, Betrüger, Unruhestifter. Das unterschreibe ich sofort! Als ich zum Beispiel meinen Rucksack einen Moment unbeobachtet lasse hüpft ein Karakara darauf und beschäftigt sich mit seinen großen Krallen und seinem Schnabel mit den Tragriemen. Der will nur spielen – aber meinen Rucksack brauche ich noch! Scheu vor Menschen kennt dieses Federvieh nicht! Lautes Gebrüll und am Rucksack zerren hilft nicht – ich muss mit meinen dicken Wanderschuhen wie eine Kung Fu-Kämpferin nach ihm treten um ihn zu vertreiben.
So viel zu meinem Rucksack und den Karakaras. Aber Karakaras gab es schon immer auf Saunders, sind sie wirklich Schuld am Verschwinden der Felsenpinguine? „Nein“, meint Richard. Er ist Arzt, kommt aus Bristol und arbeitet für zwei Jahre auf den Falklandinseln. An jedem freien Wochenende besucht er mit seinem Fotoapparat eine der kleineren Inseln. Seiner Meinung nach ist Überfischung, Ölverschmutzung und El Nino schuld daran. Die Felsenpinguine finden nicht mehr genügend Nahrung, die Küken verhungern. Wir erkundigen uns beim ART (Antarctic Research Trust). Seit Jahren beschäftigt sich diese Organisation in einem Projekt mit der Entwicklung und dem Tauchverhalten von Südlichen Felsenpinguinen. Doch auch hier: Ratlosigkeit. Dr. Klemens Pütz, der wissenschaftliche Leiter des ART, meint: In den vergangenen Jahrzehnten waren die einzelnen Bestände der Felsenpinguine immer schon größeren Schwankungen ausgesetzt. El Nino war allerdings schon letztes Jahr, dieses Jahr ist das Wetterphänomen eher nicht verantwortlich; Karakaras, Riesensturmvögel und Pinguine leben schon lange in Koexistenz, daran liegt es wohl auch nicht. Fazit: Wir wissen einfach zu wenig über diese Tiere und ihre Lebensweise.
In diesem Jahr sind an dieser Stelle auf Saunders nur die Blauaugenscharben, eine Kormoranart, zahlreich. Wir sind zutiefst enttäuscht über entgangene Felsenpinguinfotos. Traurig und ratlos setzen wir uns auf den kahlen Erdboden zwischen die verlassenen Nester der Pinguine am Rande der drei Kormorankolonien um zu beraten, was wir als Nächstes unternehmen könnten. Wir hatten unsere Pläne wieder mal ohne die Natur gemacht. Wie wir so dasitzen, löst sich ein junger Kormoran aus der Kolonie und kommt mit seinen für Landgänge viel zu großen Plattfüßen direkt auf uns zu. Er bleibt vor mir stehen, wackelt mit dem Kopf und schaut mir in die Augen, so als wollte er sagen: „Hey ich bin doch auch ganz hübsch anzusehen und lasse mich sogar gern fotografieren.“ Dann legt er sich vor meine Füße. Er ist völlig entspannt.
Von Eselspinguinen und Karakaras haben wir diese Art von Zutrauen schon kennen gelernt – aber derartig interessierte Kormorane hatten wir noch nicht. Dann jedoch hebt er plötzlich den Kopf, springt auf, dreht sich um und ergreift panikartig die Flucht. Ich hab doch gar nichts gemacht! Ich hab‘ wie eine Statue dagesessen! Aber das ist mein erster laienhafter Eindruck; das denken nur Menschen, die noch nie Kormorane beobachtet haben. Der Kleine hatte alles andere als Panik. Die Mutter (oder der Vater) des Jungtiers ist mit Futternachschub gekommen. Sie ist mitten in der Kolonie gelandet und ruft nun ihren Nachwuchs. Das hat der Kleine gehört und rennt los. Er hebt sogar fast ab, weil er seine Flügel zu Hilfe nimmt. Da Kormorane häufig zwei Jungtiere groß ziehen bekommt dasjenige zuerst Futter, das den Adulten zuerst erreicht. Die Fütterung eines Kormorans ist eine Schau für sich. Das Jungtier steckt seinen Kopf tief in den Schlund des Erwachsenen um an die ausgewürgte Nahrung zu gelangen. Es sieht aus, als ob die Eltern ihre Küken auffressen wollten. Diese Taktik ist jedoch lebenswichtig für die Jungtiere. Es gibt viele Neider; Kleptoparasiten wie Skuas und Scheidenschnäbel, die versuchen auch etwas vom mitgebrachten Futter der Kormoraneltern abzubekommen. Bei dieser Art Fütterung geht jedoch selten etwas daneben, das Jungtier bekommt alles. Die Futtersituation für die Kormorane scheint gut zu sein, wir entdecken sogar ein Tier mit drei beinahe erwachsenen Küken. Ist kein Futter mehr vorhanden, läuft der Adulte einfach weg und hebt ein bisschen ab. Der Jugendliche spurtet hinterher, schwenkt ebenfalls seine Flügel und sieht ganz erstaunt aus wenn er sogar abhebt. Meist bleiben die Kleinen nur kurz in der Luft bevor sie wieder unbeholfen landen. Am laufenden Band landen Kormoraneltern, rufen, füttern und heben wieder ab. Da vermeldet auch mein Magen mit lautem Knurren: Hunger! Kann gar nicht sein, ich habe doch gerade erst ausgiebig gefrühstückt, denke ich. Der Blick auf die Uhr lehrt mich eines Besseren – das Frühstück war vor fünf Stunden. Wir sind völlig abgetaucht in die Beobachtung von Kormoranen.
Fotos von jungen Kormoranen
Unsere Unterkunft, eine komfortable voll ausgestattete Hütte mit zwei Doppelzimmern und Gemeinschaftsbad, ist zwar nur 30 Fußminuten entfernt, aber wie immer haben wir unser Picknicklunch dabei. Solange es nicht in Strömen regnet, genießen wir jeden Mittag im Freien unser selbst gemachtes Schinken-Käse-Sandwich mit der obligatorischen kleinen Tüte Kartoffelchips. Typisch Englisch. Dabei sind wir 13 000 Kilometer von der Britischen Insel entfernt. Die Falklandinseln gehören zum Britischen Überseegebiet und sind zu nahezu 100% von Menschen mit britischen Wurzeln besiedelt. Da auf den Falklands beinahe nichts selbst hergestellt wird und der Kontakt zu den südamerikanischen Staaten von den Argentiniern nicht gern gesehen bis unterbunden wird, kommen nahezu alle Waren aus Großbritannien. Unser Essen für die drei Selbstversorger-Nächte in der Hütte stammt aus einem der beiden Supermärkte der Hauptstadt Stanley. Wir studieren die Verpackungen: Leberpastete aus Polen, Käse aus Holland, Äpfel aus Frankreich, Sahne (für unseren Custard) aus Belgien, Butter aus Irland, Mineralwasser aus Wales, Toast aus UK, Eier von Saunders! Ja, die Eier kommen tatsächlich von dieser Insel.
Es kracht hinter uns. Riesengeschrei seitens der Kormorane. Die beinahe flüggen Küken rennen mit den Flügeln schlagend aufgeregt den Hang hinauf. Wir sind unschuldig! Erst verstehen wir nicht, was die Aufregung verursacht. Doch dann sehen wir mitten in der Kolonie einen Riesensturmvogel. Es ist ein Jungtier. Offensichtlich notgelandet. Hat sich wohl mit den Winden verkalkuliert. Armer Kerl. Sturmvögel verbringen die meiste Zeit ihres Lebens auf und über dem Meer, nur zum Brüten kommen sie auf die subantarktischen Inseln. Der junge Sturmvogel rennt mit seinen riesigen, beinahe zwei Meter weiten Flügeln schlagend den jugendlichen Kormoranen hinterher, mit dem Wind den Hang hinauf. „Hey, Freund, Du musst gegen den Wind starten, nicht mit dem Wind,“ rufe ich ihm zu. Wir verstehen nicht. Wie ein Startversuch sieht das nicht aus. Er jagt die Kormorane! Dabei sind Riesensturmvögel Aasfresser. Dieses Jungtier muss sehr hungrig sein, es versucht tatsächlich beinahe erwachsene Kormorane zu erwischen. Sind möglicherweise die Riesensturmvögel an der Dezimierung der Felsenpinguine schuld? An die Eier und Küken kommen sie möglicherweise dran, wobei sie dann den wehrhaften Schnabelspitzen der Altpinguine ausgesetzt sind. Nachdem der Sturmvogel die Kormorankolonie um 50 Meter „verlegt“ hat, setzt er sich auf den Boden und ruht sich aus. Nach ein paar Minuten geht er von neuem auf die Kormorane los. Doch der Sturmvogel ist am Boden viel zu massig und unbehände mit seinen viel zu weiten Schwingen, die Kormorane sind wesentlich kleiner und wendiger – der Sturmvogel geht leer aus und erhebt sich nach einiger Zeit mit etwas Anlauf in die Luft – gegen den Wind.
Sturmvogel jagt Kormorane
Wir sind geschafft. Vom Fotografieren und den neuen Eindrücken. Nicht mal in Ruhe Mittagessen kann man auf dieser Insel! Ein Kaffee könnte helfen. Dazu müssen wir dann doch zur Hütte zurückwandern. Wir wählen den Pfad direkt an der Küste entlang. Wir blicken an der Steilküste hinunter, auf den Felsen, auf dem vor fünf Jahren jeden Nachmittag Hunderte von Felsenpinguinen anlandeten. Heute kommt keiner an – wäre aber auch noch zu früh am Tag. Aber da stehen sie. Plüschig-strubbelige junge Felsenpinguine! Getarnt. Zwischen Blauaugenscharben und Albatrosnestern. Sie sind doch noch da, nur nicht so zahlreich und ausschließlich in der Felswand. Hier haben weder Karakaras noch Sturmvögel eine Möglichkeit die Jungtiere zu malträtieren – sofern diese Vögel eine Mitschuld treffen sollte. Für Fotografen ist die Felswand allerdings eine Herausforderung. Am nächsten Tag steigen wir an einer Flanke der Kolonie ab und bekommen dann doch noch ein paar Fotos von Felsenpinguinen. Eigentlich sind sie langweilig. Die Küken stehen nur da und haben – aus fotografischer Sicht – viel zu weiße Bäuche. Bei den Kormoranen war mehr los. So schnell kann sich die Perspektive ändern!