Ein Tag beim Scheufelen

Papier 
Historische Fabrik
250.000 Quadratmeter Fläche
Überwältigung und Tristesse zugleich
Stillgelegt

Die Papierfabrik Scheufelen. Gigantisch. Eine Stadt für sich. 250.000 Quadratmeter Fläche; das entspricht etwa 37 Fußballplätzen. Mit gepflegten Holzeinbauschränken eingerichtete Büroräume, Labore, Kläranlage, gigantische Hallen. Jedoch: alle leer. Acht Meter tiefe Löcher im Boden wo einst sechs Papiermaschinen (PM) arbeiteten. Die arbeiten jetzt im Ausland. Ein lang gestreckter Raum in dem sich Schaltschrank an Schaltschrank reiht. Außer Betrieb. Alle.

Schaltschränke für Papiermaschinenbetrieb

Zur Geschichte des Familienunternehmens

1769 betreibt Isaak Koerber an dieser Stelle eine Papiermühle. 1855 pachtet Carl Scheufelen diese Papiermühle und beginnt mit der Herstellung von Zeitungs- und Zuckertütenpapier.

Bibliothek – Besprechungsraum

1888 wird eine Betriebskrankenkasse gegründet. 1892 wird das erste Spezialpapier entwickelt: Das Kunstdruckpapier. Im Ersten Weltkrieg werden für den Krieg benötigte Materialien hergestellt. Auch den Zweiten Weltkrieg überlebt die Papierfabrik unzerstört und beginnt 1946 mit der Produktion von Papier für den Schulbedarf. 1969 wird nach der Brandkatastrophe von Apollo I eigens für die NASA ein schwer entflammbares Spezialpier für die Bordbücher entwickelt. Scheufelen Papier fliegt zum Mond. Wegen schlechter Marktlage werden 1982 erstmals Mitarbeiter:innen entlassen – nachdem ein Jahr zuvor die sechste Papiermaschine in Betrieb genommen wurde. Es ist der Anfang vom Ende. 2003 werden erneut Mitarbeiter:innen entlassen und 2008 übernimmt das finnische Unternehmen Powerflute das Familienunternehmen Scheufelen. Powerflute widerum verkauft 2011 an das indonesische Unternehmen Sinar Maas Group; 2019 folgt das endgültige Aus. Konkurs.

Außer Betrieb

Scheufelen im Sommer 2024

Ich reise mit der Bahn an. Bereits 1899 wurde diese Bahnlinie nach Oberlenningen unter Aufsicht des Königs eingeweiht. Kaum zehn Meter vom Bahnhof entfernt konnten Besucher:innen das mehrstöckige Verwaltungsgebäude aus den 1920er Jahren betreten. Heute geht das nicht mehr. Die Türen sind verschlossen.

Hauptverwaltung

Heutige Besucher:innen wie ich betreten das Gelände über die Werkseinfahrt. Die meisten der etwa 30 Tourteilnehmer:innen sind bis an die Zähne bewaffnet: mit teils schweren fotografischen Geräten, Stativen und Leuchtmitteln. Ich bin im Rahmen eines Fotowalks, gebucht über go2know, hier. Sieben Stunden habe ich Zeit. Mehr als 30 Räume. Ein fotografischer und physischer Marathon durch ein Mausoleum der deutschen Industriegeschichte.

Fabrikgebäude

Durch einen Gang unter der Straße betrete ich in das Verwaltungsgebäude. Hier sind noch komplett eingerichtete Büros: Stifte, Papiere, Schlüssel, ein Tacker liegen auf den Tischen. Musterpapiere ruhen in apothekenmäßig anmutenden Holzkästen, Aktenordner stehen aufgereiht und ordentlich beschriftet in Holzregalen. Papiere in Hängeregistraturen. Ein international agierendes Unternehmen.

Die Chefetage. Das Vorzimmer ist nicht besetzt. Früher kam wohl niemand ohne Weiteres am Sekretariat vorbei. Doch: die Uhr steht auf zwanzig vor zwölf.

Vorzimmer

Teppichboden, hölzerne Vitrinen, ein Chagall-Bildband an dem niemand (außer mir) Interesse hatte, Bilder von historischen Ansichten an den Wänden. Ein stilvoller Massivholzbesprechungstisch umrahmt von Holzvitrinen. Es sieht aus, als ob gestern noch jemand hier gesessen hätte.

Die Seite der Produktionsanlagen sieht anders aus. Gigantische, tempelartig hohe Hallen. Bis zu sechs riesige Papiermaschinen standen hier. Sie wurden abgebaut. Die zuletzt 340 Beschäftigten stellten gestrichene Format- und Rollenpapiere von gehobener Qualität her. Der Zellstoff kam aus Brasilien. 70.000 Tonnen (1250 Waggons á 56 Tonnen) jährlich. Mit dem Seeschiff nach Antwerpen, dann weiter mit dem Binnenschiff bis Plochingen und von dort mit der Bahn bis ins Werk Oberlenningen.

Wie wird Papier eigentlich hergestellt? Aus Zellulosefasern und Wasser wird ein Brei erstellt, der durch eine Art Siebmatte gepresst wird. Durch Pressen, Erhitzen oder Absaugen wird dieser Matte das Wasser entzogen. Nach dem Trocknen erhält man ein im Allgemeinen flaches, gleichmäßiges und festes Papierblatt. Für die Papierherstellung werden also nicht nur Holz sondern auch viel Wasser und Chemikalien benötigt, somit gehört ein eigenes Klärwerk zu den wichtigsten Einrichtungen einer Papierfabrik.

Doch Papier ist nicht gleich Papier. Immer wieder werden neue Spezialpapiere entwickelt, für unterschiedlichste Verwendungsmöglichkeiten und aus unterschiedlichstem Material wie zum Beispiel Grasfasern. Entsprechend groß ist das Entwicklungslabor. Zu Beginn unserer Fototour werden wir darauf hingewiesen, im Labor bloß nichts anzufassen, es seien noch teilweise Chemikalien übrig und möglicherweise noch Gas in den Leitungen.

Labor

Eine historische Streichmaschine, einst zum Auftragen von Beschichtungen genutzt, steht verloren im großen Raum der ersten Etage. Oder ist es die zweite Etage? Langsam verliere ich die Orientierung in den verwinkelten Bauten mit fünf verschiedenen Treppenaufgängen. Durch die historischen Fenster fällt ein Sonnenstrahl. Im Zeughaus steht ein alter Mahlstein. Riesige Maschinen stehen auf engstem Raum in der Holzschleiferei im Keller und gleich im nächsten Raum die historische Turbine VII. Das Kesselhaus ist kaum fotografierbar: zu groß, zu hoch, zu eng. Zu viele Details. In jedem Raum könnte ich mich einen ganzen Tag aufhalten und habe doch nur sieben Stunden.


Was folgt auf die Stilllegung?

Ein Teil der Lagerhallen ist temporär vermietet. Das Gelände gehört heute der DLE Group (Land Development GmbH), die ein Wohn- und Gewerbequartier entstehen lassen möchte. Die historischen, unter Denkmalschutz stehenden Gebäude sollen erhalten bleiben; die anderen der mehr als 30 Gebäude werden zurückgebaut um bis zu 650 Wohneinheiten zu errichten. 25 Prozent der derzeit umbauten Fläche sollen entsiegelt werden – so der Plan. Auch die Lauter, die zum heutigen Zeitpunkt noch unter dem Werksgelände fließt, soll freigelegt und renaturiert werden.