Die Völklinger Hütte. Gut 6000 Tonnen Stahl wurden zu Spitzenzeiten hier produziert. Pro Tag. In sechs Hochöfen. 17.000 Menschen hatten hier ihren Arbeitsplatz. Etwas mehr als einhundert Jahre pochten die Herzen der Anlage, doch dann kam die Stahlkrise und 1986 war Schluss. Die Konkurrenz konnte günstiger produzieren. Als Industriedenkmal wurde der Teil der Hochofenanlage unter Denkmalschutz gestellt, 1994 wurde das Ensemble UNESCO Weltkulturerbe.
Schon viele Male war ich auf der Zeche und Kokerei Zollverein in Essen sowie im Landschaftspark Duisburg. Derartige Industriedenkmale sind nicht neu für mich, also kann ich mir ein weiteres ehemaliges Hochofenwerk wohl sparen, oder? Ich habe aber vier Tage Zeit und möchte meine neue Kamera ausführen. Also setze ich mich mit meinem 49-Euro-Ticket in den Zug und fahre nach Saarbrücken. Ich wähle die Landeshaupt des Saarlands als Standort, weil hier die Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten aller Preisklassen groß ist. Nach Völklingen fährt der Zug knapp 10 Minuten und die Völklinger Hütte liegt direkt neben dem Bahnhof. Schon bin ich mittendrin: Das von Hendrik Beikirch geschaffene Kunstwerk des türkischen Arbeiters Kaya Urhan weist den Weg. Urhan arbeitete seit 1972 in der Völklinger Hütte als Hochöfner am Hochofen III.
Wenn ich auf Fototour bin brauche ich für alles vier Mal so viel Zeit, also kaufe ich gleich ein Zweitagesticket. Das ist günstiger und stellt sich als goldrichtig heraus. Auch ohne Fotoapparat würde ich mich hier locker zwei Tage aufhalten – mit Pause im Biergarten, versteht sich! Die Völklinger Hütte ist das einzige vollständig erhaltene Eisenwerk aus der Blütezeit der Industrialisierung. Weltweit.
Mehr als sieben Kilometer Besucherwege führen zu Meilensteinen der Technikgeschichte, steht in der gedruckten Broschüre, die ich mit meinem Ticket erhalte. Hochofenanlage, Erzschrägaufzug, Sinteranlage, Möllerbunker, Gebläsehalle, Kokerei. Die Entscheidung, was ich zuerst in Angriff nehme mache ich von der Witterung abhängig.
Da es gerade trocken ist mache ich mich sofort auf den Weg zu den Hochöfen. Der Weg führt durch die Möllerhalle (Möller ist althochdeutsch für Gemisch) Hier konnten 12.000 Tonnen Material (Erz und Sinter) zwischengelagert werden, damit die Bestückung der Hochöfen stets gesichert war. 30 Arbeiter waren pro Schicht in den staubigen und zugigen Gängen der Halle mit dem Befüllen und Verwiegen der Materialwagen beschäftigt, lese ich auf der Infotafel.
Ich folge dem Weg der an genieteten Eisenträgergerüsten hängenden Materialwagen. Eine Konstruktion die mich an die heimische Wuppertaler Schwebebahn erinnert.
Die Materialwagen wurden über den Schrägaufzug zum oberen Ende der Hochöfen gezogen. Die Aufzuganlage ist nicht begehbar,
wer auf die Hochöfen möchte, muss über viele Tränenblechstufen hinaufsteigen. Zum Glück sind es keine Gitterroste, das wäre eine Herausforderung für mich.
Bis ich die luftige Höhe von etwa 30 Metern erreicht habe, bin ich ganz schön am Schnaufen. Der Tag ist noch jung und ich bin vollkommen allein hier oben. Es ist fast unheimlich. Überall hängen Materialwagen, einst gefüllt mit unterschiedlichsten Zutaten: Eisenerz, Sinter, Zusatzstoffe, Koks, Schrott.
Jeweils fünf Wagen begichteten (bestückten) einen Hochofen über die geöffnete Haube. Die Haube ist der obere Verschluss eines Hochofens, sozusagen der Deckel des großen Kochtopfes. Auf der Infotafel lese ich: „Im Abstand von zweieinhalb bis drei Stunden wurden im Schnitt 130 Tonnen Roheisen abgestochen, täglich etwa 1.100 Tonnen pro Hochofen. Die Winderhitzer stehen in Dreiergruppen vor den Hochöfen. Sie heizten den Hochofenwind der Gebläsemaschinen auf 1.200 Grad Celsius. Im unteren Bereich des Hochofens herrschten Temperaturen bis 2.200 Grad Celsius. Insgesamt arbeiteten im Bereich Hochofengruppe 50 Arbeiter.“ Heute ist alles ruhig, beinahe sauber und kühl hier. Den Lärm und die Hitze von früher kann ich mir schwer vorstellen. Es ist ein Wirrwarr aus dünnen und dicken Gasrohren, Ventilen, Verschlussrädern, Klappen.
Die Funktionsweise eines Hochofens wird sehr anschaulich zum Selbstbeschicken mit bunten Tennisbällen in der Ferrodom-Ausstellung erklärt. Ich folge jedoch nach dem Abstieg den Hinweisschildern zum Paradies. Das klingt interessant – ich bin gespannt was mich erwartet. Während die Hochöfen gut erhalten und von Unrat und unerwünschten Kräutern befreit wurden, überlässt man die angrenzende ehemalige Kokerei sich selbst.
Die Natur hat hier schon ordentlich gearbeitet: Birken, Holunder, Sommerflieder, Wildkirsche, Brombeeren lassen nur noch kleine Durchblicke auf die Anlage zu. Jetzt brütet ein Rotschwänzchen im Koksofen, ein großer Greifvogel fliegt weg als ich komme – auch hier bin ich beinahe allein unterwegs (während die anderen Besucher nun die Hochöfen bevölkern). Plötzlich ertönt lautes Quaken. Ist das Kunst oder ist das echt? Es ist echt. Kunst hingegen ist der zehn Meter hohe King Kong von Otmar Hörl, der grimmig auf die Anlage und die Besucher schaut.
Kunst in allen Varianten finden Besucher:innen auf der gesamten Anlage und alle zwei Jahre kommt neue hinzu. Dann findet die Urban-Art-Biennale statt. In der großen ehemaligen Sinteranlage wurden über drei Etagen Kunstwerke installiert. Moderne Kunst gepaart mit rostigen Relikten aus der Hochzeit der Stahlindustrie. Ein Kunstwerk, das mich tief beeindruckt hat, möchte ich hervorheben: Die Installation des 2021 verstorbenen Künstlers Christian Boltanski: Die Zwangsarbeiter – Erinnerungsort in der Völklinger Hütte. Durch einen Gang aus rostigen Archivkästen komme ich zu einen Kleiderberg aus dunklen Hosen und Jacken. Im Hintergrund hörte ich aus allen Ecken im Flüsterton die Namen der Zwangsarbeiter. Mehr als 12000 Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene schufteten unter erbärmlichen Bedingungen für die deutsche Rüstungsindustrie. Mehr als 260 starben.
In der riesigen Gebläsehalle findet gerade eine Ausstellung zum Deutschen Film statt. Allein für diese Ausstellung, für die jeder Besucher / jede Besucherin einen kostenlosen Audioguide bekommt, brauche ich mehr als zwei Stunden. Bis Mitte August 2024 läuft diese sehenswerte Ausstellung noch. Außerdem gibt es von Juni bis August 2024 die Ausstellung Man & Mining mit Fotografien, Objekt- und Rauminstallationen zum Thema „Mensch und Extraktion – der Human-Faktor im Mining-Geschäft, die Ressource Mensch, die die industrielle Landnahme über und unter Tage erst möglich macht.
Die Völklinger Hütte ist wirklich eine Anlage der Superlative und es war gewiss nicht mein letzter Besuch. Beim nächsten Mal werde ich den Besuch mit einer Wanderwoche kombinieren.