Wanderung an einem rekonvaleszenten Fluss
„Die Emscher ist doch kein Fluss an dem man spazieren oder gar wandern geht!“, sagt meine Kollegin völlig entsetzt. Als ob ich meschugge wäre und keine Ahnung hätte, auf was ich mich da einlasse. Sie weiß es, sie ist im Herzen des Ruhrgebiets aufgewachsen. Doch das ist lange her. Die Emscher ist kein schöner Fluss, aber sie ist dabei einer zu werden. Wieder. Für viele Ältere ist die Emscher der Inbegriff einer Kloake, die als stinkender Kanal nur dafür da ist, das abzutransportieren was der Mensch nicht mehr braucht: Fäkalien, Küchenabfälle, Industrieabfall.
Doch mit der Aufgabe der Steinkohleförderung begann die Emschergenossenschaft das Abwasser in mannshohe unterirdische Rohre zu verlegen und die Emscher zu renaturieren. Die naturnahe Emscher – das möchte ich mir ansehen. Zwei Wochen habe ich Zeit und werde mich von fünf verschiedenen Standorten mitten im „Pott“ entlang der Emscher bewegen. Dabei entferne ich mich nie weiter als fünf Kilometer vom Fluss.
Holzwickede – wo die Emscher entspringt
Ich beginne an der Quelle in Holzwickede. Im Hotel Haus Lohenstein finde ich eine geeignete, nette Unterkunft, sogar ein Balkon steht mir zur Verfügung. Holzwickede ist ein eher verschlafener Ort im Schatten von Dortmund, ich könnte von hier zu Fuß gen Norden zum drei Kilometer entfernten Flughafen Dortmund laufen.
Doch ich marschiere drei Kilometer in die entgegengesetzte Richtung: Im Sölder Holz, einem kleinen Waldstück an der Grenze zu Dortmund, gibt es fünf Quellen. Diese vereinigen sich nach wenigen Metern zu einem Bächlein, das nach Austritt aus dem Wald in einem Teich am ehemaligen Lünschermannhof gesammelt wird. Es ist der Emscherquellteich. Aus dem Bauernhof wurde der Emscherquellhof der von der Wewole-Stiftung betrieben wird. Neben einer kleinen Ausstellung zur Emscher gibt es ein Cafe und Veranstaltungsräume. Auf dem Gelände rund um den Hof können Besucher:innen auf einem gemähten Weg durch eine bunt blühende Naturwiese lustwandeln; sie lernen dabei die Lebensweise von Bienen und Schmetterlingen aller Art kennen und stolpern über das erste Kunstwerk: The Insect Societies (Part I) von Henrik Håkansson.
Ich folge dem Weg des Emscherbaches quer durch Holzwickede vorbei an der ehemaligen Zeche Caroline durch ein Industriegebiet. Hier haben sich neben einem großen Stahlrohrhersteller auch Transport- und Logistikunternehmen angesiedelt. Schön ist es nicht, möglichst schnell durchlaufen, denke ich. Doch auf einem Stück Brachland frühstücken zwei Feldhasen. Mein Teleobjektiv muss ganz schnell meinen Rucksack verlassen. Während ein Hase die Flucht ergreift geht der andere nur in Alarmstellung.
Mit einem Hochgefühl laufe ich weiter. Meinen letzten Feldhasen habe ich vor mehr als zehn Jahren gesehen! Ein 25-Tonner fährt donnernd an mir vorbei. Idyllisch ist anders, schmolle ich beim Einatmen der Abgase, doch da landet ein Fasan vor mir auf der Straße. Er läuft schnellen Schrittes ins vermüllte Gebüsch auf der anderen Straßenseite. Fasane wurden vor Jahrhunderten in Europa zu Jagdzwecken eingebürgert und besiedeln halboffene Landschaften und lichte Wälder. All das gibt es in diesem Industriegebiet.
Nachdem ich die Fabrik des Stahlrohrherstellers umlaufen habe, führt der Weg entlang der Emscher, wobei das Gewässer in einem Graben unterhalb des Weges fließt und der naturbelassene Randstreifen eines Kornfeldes mein Auge erfreut.
Dortmund-Aplerbeck
Aplerbeck wurde erstmals 899 erwähnt und ist heute ein Stadtteil Dortmunds. Zu den markanten Sehenswürdigkeiten gehört die Georgskirche, das Wasserschloss Haus Rodenberg und der in den letzten Jahren neu gestaltete Marktplatz mit dem Rathaus. Seit 2010 durchfließt die renaturierte Emscher den Ortskern oberirdisch.
Vorbei am 1926 geschlossenen jüdischen Friedhof wandere ich durch das NSG Aplerbecker Wald mit stattlichen alten Buchen zurück nach Holzwickede. Es ist eine wunderbare Tagestour von 15 Kilometern mit vielen Fotostopps.
Standort Dortmund-Hörde
Mein nächster Standort ist die ehemalige Kreisstadt Hörde. Ich übernachte im noblen Hotel Hampton by Hilton zu zivilen Preisen (weil coronabedingt nicht alle Wellnessangebote genutzt werden können) und schaue dabei direkt auf die Hörder Burg. Als Stammsitz der Adelsfamilie Hörde wurde sie im 12. Jh als Wasserburg direkt an der Emscher errichtet. Im Laufe der Jahrhunderte wechselten ihre Besitzer mehrfach. Um 1920 wurde eine Vorburg errichtet die der Hoesch AG als Verwaltungsgebäude diente. Ihr heutiges Aussehen erhielt die Burg vor wenigen Jahren.
Einst wurde Hörde geprägt von Hochöfen, Puddel- und Walzwerk sowie vom Kohleneisensteinwerk. Mit der Fusion des Hörder Bergwerks- und Hütten-Vereins mit der Phoenix AG im Jahr 1906 entstand das viertgrößte Industrieunternehmen des Deutschen Reiches und war bald bekannt als Phoenix-West und Phoenix-Ost. Im Hochofenwerk Phoenix-West wurde Roheisen hergestellt das flüssig und glühend heiß per Eisenbahn (Eliasbahn) durch den Ort ins Stahlwerk Phoenix-Ost transportiert wurde. In Phoenix-Ost war das Roheisen Grundlage der Stahlherstellung. 1998 schloss Phoenix-West, drei Jahre später Phoenix-Ost. Doch in der griechischen Mythologie ist Phoenix ein Vogel der am Ende seines Lebens verbrennt und aus seiner Asche neu ersteht. Die Phoenixwerke sind zwar nicht verbrannt, erlebten jedoch eine radikale Erneuerung.
Dortmund Phoenix-See
Das Stahlwerk Phoenix-Ost wurde komplett abgebaut und in China wieder aufgebaut. Es blieben 96 Hektar Brachland, das für 230 Millionen Euro umgebaut wurde. An der Stelle wurde ein Loch gegraben und 2010 mit Grundwasser befüllt. Die Geburt des Phoenix-Sees. Die Emscher muss jedoch draußen bleiben; sie fließt in einem vom See abgetrennten naturnah gestalteten Bett am Rande. So landet keine Sedimentfracht vom Fluss im See, der sonst auf lange Sicht verlanden würde. Mit seinem Umfang von eineinhalb Kilometer Länge, 320 Meter Breite und gut vier Metern Tiefe ist er größer als die Hamburger Binnenalster. Rund um den Phoenix-See entstand Wohnraum wo einst niemand wohnen wollte: Vom Luxuseigenheim in der ersten Reihe und direkt dahinter liegen Arbeiterwohnungen. Plötzlich war diese Gegend hipp, was leider auch die Mieten explodieren ließ. Für mich als Touristin ist dieser Ort wunderbar, neben Restaurants, Bars, Eisdielen
gibt es auch jede Menge wildlife unter anderem Kanada- und Nilgänse, Haubentaucher, Blässhühner, Teichrallen, Bachstelzen, Frösche.
Der Aushub des Sees – von mehr als Hundert Jahren Stahlindustrie kontaminierter Boden – wurde am Rand aufgetürmt, mit einer Humusschicht versehen begrünt und zum Aussichtsberg: der neue Kaiserberg. Von hier oben blicke ich auf die neue Skyline von Hörde.
Dortmund Phoenix-West
Während Phoenix-Ost komplett abgebaut und umgestaltet wurde, blieben die Industrieanlagen und -gebäude von Phoenix-West zum Großteil erhalten. Das alte Hochofenwerk kann im Rahmen einer Führung über einen Skywalk besichtigt werden. Von der Spitze des Hochofens, dort wo früher Eisenerz in den heißen Schlund des übergroßen Kochtopfes geschüttet wurde, wird das ganze Ausmaß des ehemaligen Industriegeländes sichtbar.
Mehrere Halden bieten nicht nur Menschen Aussichts- und Picknickmöglichkeiten, auch Teichfrösche und Gelbbauchunken fanden hier ein neues Zuhause.
In der zur Veranstaltungshalle umgebauten Phoenix-Halle ist heute ein Corona Impfzentrum untergebracht und der Hoesch-Gasometer ragt als Landmarke auf. Abends sind Radsportler unterwegs und drehen auf dem glatten Asphalt ihre Sprinterrunden.
Gastronomie darf an einem solchen Ort nicht fehlen. Hier wird sogar eigenes Bier gebraut, das DBB – Dortmunder Bergmann Bier. Die Bergmann Brauerei wurde 1796 gegründet und 1972 geschlossen. Union-Ritter Brauerei übernahm die Marke, gab aber die Produktion auf. Der Lebensmittelbiologe Thomas Raphael sicherte sich – eher aus Spaß – im Jahr 2005 die Rechte am Markennamen und im Lauf der Jahre entstand die Mikrobrauerei. Heute werden zehn verschiedene Biere gebraut – eins leckerer als das andere. Angeboten wird es im Wesentlichen im Ruhrgebiet. Ihr wollt mehr wissen? DBB Dortmunder Bergmann Bier
Dortmund Westfalenpark
Vom Areal der Phoenix-Werke führt ein idyllischer Waldweg am Ufer der Emscher entlang direkt zum Westfalenpark. Im Rahmen der Bundesgartenschau entstand dieser 70 Hektar große Park aus einer Mülldeponie, verwilderten Kleingärten, einem Hain und dem Buschmühlenpark. Es gibt offene Rasenflächen zum Relaxen, naturbelassene Wiesen für allerlei Insekten, gepflegte Blumenbeete, 3000 verschiedene Rosenarten, Skulpturen und seit 1991 ist ein kleiner Teil dem Naturschutz gewidmet. Die Emscherbahn fährt Besucher:innen durch den Park und ein Fahrstuhl bringt sie auf den 220 Meter hohen Florianturm. Ich verbringe den ganzen Tag hier und verspeise zum Schluss im Gasthof Buschmühle ein paar echte Weißwürste – es muss ja nicht immer Currywurst sein.
Die Emscher und ich setzen unseren Weg fort, vorbei am Signal-Iduna-Park, durch das NSG Bolmke und Schrebergärten. Unter der Schnettkerbrücke (B1/A40) durch nach Dortmund-Dorstfeld. Hier gibt es eine der schönsten Zechensiedlungen im Ruhrgebiet.
Mit Zechensiedlungen und dem Ruhrgebiet sind auch die Schrebergärten eng verbunden. Etliche Male führt mein Weg durch Schrebergärten-Siedlungen – die Duftmischung von gegrillter Bratwurst und Rosen habe ich immer noch in meiner Nase.
Dortmund Deusenberg
Die Emscher und ich streifen den Dortmunder Hafen und den Dortmund-Ems-Kanal; nach der Kläranlage fließt der Fluss weiter während ich den 112 Meter hohen Deusenberg besteige. Der Deusenberg ist kein natürlicher Berg, sondern eine Mülldeponie: Trümmer und Schutt von zerstörten Häusern des 2. Weltkriegs landeten hier genauso wie Hausmüll und Industrieabfälle der angrenzenden Kokerei Hansa. 1992 wurde die Deponie stillgelegt, der Müllberg wurde zum Aussichtspunkt und zum Mountainbike Parcours. Es entstand neuer Lebensraum für etliche Pflanzen- und Tiere die andernorts verdrängt wurden. Eine Solaranlage liefert Sonnenstrom. Hier oben weht ein angenehm kühler Wind, während es auf dem Weg entlang der Emscher ziemlich warm ist.
Dortmund Kokerei Hansa
Ich steige den Berg hinab und lande direkt bei der ehemaligen Kokerei Hansa – heute ein Museum. Kokereien sind unmittelbar mit dem Kohleabbau und der Stahlerzeugung verbunden. In einer Kokerei wird aus Steinkohle Koks und Rohgas erzeugt. Die Koksofenbatterie ist das Herzstück der Kokerei. In den schmalen, nebeneinander liegenden Öfen wurde Kohle zu Koks verbacken. Der fertige Kokskuchen wurde mit einem Schieber aus der Ofenbatterie gedrückt und landete dort wo jetzt das Wasser steht.
In der Kompressorenhalle wurde das beim Verkoken entstandene Gas mit fünf Kompessoren verdichtet und dann in das Ferngasnetz eingespeist.
Wenn Ihr die Kokerei Hansa selbst besucht, nutzt auf jeden Fall das Angebot des kostenlosen Audioguides als App zum Runterladen. Außergewöhnlich gut gemacht; besonders gefallen haben mir die kurzen Kommentare und Statements einiger ehemaliger Arbeiter.
Die Emscher kreuzt den Rhein-Herne-Kanal
Einige Kilometer weiter kreuzt die Emscher den Rhein-Herne-Kanal. Hier ist gerade Großbaustelle, doch vom Walkway and Tower habe ich einen guten Überblick. Der Turm wurde von Tadashi Kawamata als Beitrag zur Emscherkunst 2010 errichtet. Kawamata wählte bewusst Holz als Material, denn so wie diese Gegend befindet sich Holz in einem permanenten Zustand von Veränderung durch Witterung, Jahreszeitenwechsel und menschliche Eingriffe.
Hier beginnt die 34 Kilometer lange so genannte Emscherinsel. Es ist eine renaturierte Grünfläche zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal. Die Emscher fließt wieder traurig in ihrem langweiligen, geraden Kanalkorsett. Blicke auf den Fluss sind meist nur von Brücken möglich, doch der Wanderweg ist idyllisch. Während der Emscher(Wander)-Weg blau markiert ist, trägt der Emscherkunst-Weg orange Markierungen. Ich laufe mal den einen und mal den anderen Weg.
Standort Herne
Das Herner Meer, oberhalb der Schleuse Herne-Ost, zieht nicht nur Kanadagänse an. …
Ich übernachte in Herne am Stadtgarten, dreieinhalb Kilometer von der Emscher entfernt. Das Parkhotel zählt zu den besten Übernachtungsmöglichkeiten der Stadt. Ich habe ein schönes, ruhiges Zimmer und einen gemütlichen Biergarten im Hof. Durch den angrenzenden Stadtgarten mache ich noch einen Abendspaziergang und stehe plötzlich vor einen antiken Grabungsfeld – so scheint es. Ausgestellt ist das, was von der Zeche Mont Cenis übrig blieb. Auf dem Gelände neu errichtet wurde die Fortbildungsakademie des NRW-Innenministeriums. Tagsüber ist das Gebäude frei zugänglich – der Blick hinein lohnt sich.
Herne – Kläranlage als Kunstobjekt
Auf dem Weg zur Zeche Ewald komme ich an einer weiteren Kunstinstallation vorbei: Arbeiterproteste von Silke Wagner. Als Leinwand dient der Faulturm der ehemaligen Kläranlage Herne. Beginnend mit dem ersten großen Massenstreik 1889 bis hin zum 2007 beschlossenen Ausstieg aus der Steinkohleförderung zeigt das Wandbild in Schlagworten und Darstellungen, die auf Archiv- und Zeitungsfotos basieren, wichtige Eckdaten der Protestbewegung.
Recklinghausen – Zeche Ewald und Horizontobservatorium Halde Hoheward
Zeche Ewald gehört zu Herten. Die markante Architektur vom Stararchitekten Fritz Schupp ist in Teilen erhalten. 1871 ging die Zeche an den Start; im Jahr 2000 wurde der Betrieb endgültig eingestellt. 1200 neue Arbeitsplätze sind auf dem Areal des Bergwerks 1/2/7 bereits entstanden. Ewald soll sich zu einem Messe- und Eventort entwickeln – so war jedenfalls der Plan, in einer Zeit als man mit Corona nur eine mexikanische Biersorte verband.
Die Halde Hoheward, an deren Hang ich jetzt stehe, gehört zusammen mit der angrenzenden Halde Hoppenbruch zur größten Haldenlandschaft Europas. Die Halden sind Aufschüttungen der Bergwerke Recklinghausen II, Ewald, Schlägel und Eisen und General Blumenthal. Sie entstanden in den 1980er Jahren aus zwei nebeneinander liegenden Aufschüttungen. Die zwischen beiden Halden liegende Kleinsiedlung wurde abgerissen. Mit 170 Hektar Gesamtfläche und einer Höhe von 111 Metern ist Hoheward der Gigant unter den Ruhrgebietshalden. Der direkteste Weg zum Gipfel führt über 500 Treppenstufen. Allerdings ist das ziemlich anstrengend.
Das 2008 eingeweihte Horizontobservatorium stellt die moderne Version eines prähistorischen Steinkreises dar. Während Stonehenge immer noch steht, musste der Äquatorbogen kurz nach seiner Errichtung abgestützt werden. Risse in den Schweißnähten wurden festgestellt; die Anlage musste aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Provisorisch wurde der Bogen durch zwei zusätzliche Pfeiler gestützt.
Die alles überspannenden Bögen teilen den Himmel in eine Ost- und eine Westhälfte, sowie Nord- und Südhalbkugel ein. Das Provisorium steht heute, 12 Jahre später immer noch da. Die Eigentümer und die Stahlbaufirma streiten um das Verschulden und das Beseitigen des Mangels. Fünf Jahre arbeiteten Experten an einem Gutachten und berechneten dafür: 970.000 Euro – ein Viertel der Baukosten (zwei Millionen Euro). Dem Gutachten zufolge ist der Schaden größer als bislang angenommen, die Schwingung des Bauwerks sei Ursache für die Risse an den Schweißnähten. Um das Bauwerk zu erhalten, wird von Kosten zwischen zwei und fünf Millionen Euro ausgegangen. Der Abriss ist die andere Alternative.
Die angrenzende Horizontalsonnenuhr arbeitet einwandfrei. Das Zifferblatt hat eine Fläche von 3000 Quadratmetern.
Gelsenkirchen – Zoom-Erlebniswelt
Nach dem Überqueren der Emscher und des Rhein-Herne-Kanals über die Grimberger Sichel bin ich in Gelsenkirchen. Die Übergänge von einer Stadt in die nächste sind oft fließend. Der ehemalige Ruhrzoo wurde vor einigen Jahren komplett modernisiert und naturnah gestaltet. Normalerweise sind hier sehr viele Besucher, doch ich habe mit 36 Grad Celsius den heißesten Tag des Monats erwischt und bin fast allein unterwegs.
Der Vorteil von Wanderungen im Ruhrgebiet ist unter anderem die sehr gute Anbindung durch den ÖPNV. So laufe ich meist eine Strecke und fahre zurück bequem mit Bus und Bahn. Die S-Bahnhaltestelle Gelsenkirchen Zoo verwundert mich allerdings doch etwas. Der zwischen Gleisen und Autobahn eingekeilte Bahnsteig sieht ungenutzt aus – von den jährlich mehr als 800.000 Besucher:innen der Zoom-Erlebniswelt scheinen die wenigsten mit der Bahn zu kommen.
Gelsenkirchen – Schalke
Noch etwas Außergewöhnliches gibt es in Gelsenkirchen-Schalke. Vom FC Schalke 04 haben sicher auch Nicht-Fußballfans schon gehört. Unweit der Veltins Arena (bis 2005 Arena auf Schalke) gibt es ein Fußballfeld, zwei Tore, alles in blau/weiß gehalten aber hier wird kein Fußball gespielt. Diese Spieler und ihre Fans spielen nicht mehr. Es ist ein Friedhof. Für Schalkefans!
Gelsenkirchen – Nordsternpark
Zurück an die Emscher, doch was ist das? Eine riesige nackte Figur mit Keule thront über den Dächern der Häuser. Der Herkules von Gelsenkirchen. Dass ich noch in Gelsenkirchen bin, ist klar, wo sonst würde Herkules mit königsblauen Haaren und einem ebenso blauen Bart dargestellt?
Die 18 m hohe [und 23 Tonnen schwere] Skulptur wurde eigens für diesen Ort geschaffen – von Markus Lüperts, einem der renommiertesten deutschen Künstler der Gegenwart. Herkules kündet von den großen Aufgaben des Reviers, vom Mut und der Tatkraft, die es zu ihrer Bewältigung braucht. In Anlehnung an den griechischen Nationalhelden Herakles – auch Herkules genannt, der zwölf Aufgaben bewältigen musste und mit Bestehen jeder Aufgabe in Kraft und Selbstbewusstsein wuchs, wird die Skulptur als Herkules von Gelsenkirchen bezeichnet. 1866 entstand an dieser Stelle das erste Kohlebergwerk nördlich des Flusses Emscher. Damit ist sie der nördlichste Stern im Revier – Nordstern. In den 1950er Jahren wurden etliche Gebäude von Fritz Schupp erbaut. 1967 schloss die Kokerei, 1983 wurden Nordstern und die Essener Zeche Zollverein zusammengeschlossen. 10 Jahre später schloss Nordstern endgültig die Tore. 1997 fand hier die Bundesgartenschau statt – die erste auf einer ehemaligen Industriebrachfläche. Dort wo einst Kräne und Gleise waren, ranken heute Rosen.
Standort Bottrop
Der Emscherkanal führt direkt nach Bottrop. Seine Ufer sind häufig mit Wildpflanzen bewachsen. Zu gern würde ich ein paar Fotos von Insekten machen, aber mich trennt ein Zaun. Wie immer. Das Wasser der Emscher berühren kannst Du fast nirgendwo, der Fluss-Kanal ist beinahe immer eingezäunt oder von dichtem undurchdringlichem Buschwerk umgeben.
Die Kläranlage Bottrop entstand bereits 1928, natürlich nicht in dieser Dimension. 8.500 Liter Wasser werden hier pro Sekunde gereinigt. Das entspricht etwa 56 vollen Badewannen – pro Sekunde! Die vier (54 Meter hohen) Faulgastürme sind die größten der Welt. Das Klärwerk Bottrop versorgt sich annähernd autark mit Energie aus Solarpanels und aus dem zu Erdgas umgewandelten Faulgas. Das spart jährlich 70.000 Tonnen CO2 – so der Betreiber. Die Anlage gehört zu den modernsten Europas.
An manchen Stellen ist es nicht wirklich idyllisch. Der Weg läuft parallel zum Emscherschnellweg – der A 42.
Bottrop Berne-Park
Eine interessante und günstige Übernachtungsmöglichkeit liegt direkt am Emscherdeich – im Parkhotel. Das Parkhotel liegt im Berne-Park; die freistehenden Zimmer sind drei Meter lang mit einem Durchmesser von 2,40 Metern. Es sind Betonröhren.
Innen sind die Rohre mit einer Matratze, Bettzeug, Licht und einem Guckloch ausgestattet. WC und Duschen befinden sich in einem Baucontainer, versteckt hinter Bäumen. Das Geld für die Übernachtung steckst Du einfach in einen Briefumschlag.
Die Lage des Parkhotels könnte kaum schöner sein. Es ist die ehemalige Kläranlage Bottrop-Berne. Übernachten in einer Kläranlage, was für eine schräge Idee. Aber aus der Kläranlage wurde im Zuge der Emscherkunst 2010 das Theater der Pflanzen. Ja, auch die Kläranlage ist Kunst. Von Piet Oudolf und Gross.Max wurde eines der beiden ehemaligen Klärbecken mit Stauden bepflanzt. Nachhaltige Kunst zum Anfassen und Genießen. Entstanden ist ein wunderbarer Garten, ein Fest für menschliche Augen und ein Nahrungsparadies für Insekten und andere Tiere. Und abends mit Beleuchtung – eine Kunst-Installation von Micha Kuball.
Oberhausen – vom Zauberlehrling zu Slinky
Wer ist dieser Geselle? Der Zauberlehrling der Künstlergruppe Inges Idee gehört auch zur Emscherkunst. Ich bin mittlerweile in Oberhausen. In Anlehnung an den Protagonisten aus Goethes gleichnamiger Ballade erweckten die Künstler scheinbar einen Fernleitungsmast zum Leben, der seitdem aus der Reihe tanzt. Humorvoll setzen sich die Künstler in der Arbeit mit der zunehmenden Elektrifizierung der Gesellschaft auseinander. Strommasten prägen das Ruhrgebiet und wenn da plötzlich so ein Mast aus der Reihe tanzt, zaubert dieser unweigerlich ein Lächeln in mein Gesicht. Je nach Blickwinkel verändert sich die Dynamik der Bewegung. Die 35 Meter hohe Stahlskulptur orientiert sich in Größe und Bauweise an dem Typ eines Bahnstrommasts. Allerdings wurden für diese spezielle Konstruktion alle Elemente extra gezeichnet und hergestellt, um die geschwungene Form zu erzeugen.
Im Schloss Oberhausen ist heute die Ludwiggalerie untergebracht. Hier findet gerade die erste Vernissage nach dem 2. Lockdown statt – umsonst und draußen.
Direkt am Schloss überspannt ein merkwürdiges Gebilde den Rhein-Herne-Kanal. Slinky springs to Fame. Schon wieder Emscherkunst. Seine Inspiration fand der Künstler Tobias Rehberger bei Slinky. Slinky ist ein aus einer Schraubenfeder bestehendes Spielzeug, das um 1945 vom amerikanischen Ingenieur Richard James erfunden wurde. Rehberger machte daraus eine Fußgängerbrücke. 406 Meter lang, ein begehbares Kunstwerk also.
Bei der Realisierung des Entwurfes musste die vom Wasserstraßen- und Schiffahrtsamt vorgegebene Höhe von acht Metern eingehalten werden. Die Uferstreifen durften nicht bebaut werden, da das Kanalufer durch rückwärtig verankerte Spundwände gesichert ist. Außerdem laufen neben den Uferwegen verschiedene Versorgungsleitungen. Bedingung für den Bau war Barrierefreiheit, außerdem durfte keiner der alten Bäume dem Bau zum Opfer fallen.
Der Bodenbelag ist farbig. Nachts strahlen 293 LED-Leuchten die farbige Laufbahn von unten an, in den Handläufen beleuchten sie die Gehfläche von oben.
Duisburg – Landschaftspark Duisburg-Nord
Jetzt wird es kompliziert. Die Emscher teilt sich, besser gesagt sie wurde von Menschenhand in drei Flüsse/Kanäle geteilt. Die Emscher fließt weiter in Richtung Dinslaken, als Abwasserkanal. Die Kleine Emscher fließt weiter über Duisburg-Marxloh in den Rhein und die Alte Emscher fließt zunächst unterirdisch verrohrt durch den Landschaftspark Duisburg-Nord nach Bruckhausen. Ich folge der Alten Emscher in den Landschaftspark Duisburg-Nord.
Hier stand einst das Hüttenwerk Meiderich. Fünf Hochöfen produzierten Stahl, während die Landschaft drum herum noch weitgehend von Landwirtschaft geprägt war. Wie überall im Ruhrgebiet war auch hier Schicht im Schacht, aus der qualmenden, stinkenden Hochproduktionsstätte von Stahl wurde ein Landschaftspark mit begehbarem Hochofen als Aussichtpunkt. Doch damit nicht genug. Im ehemaligen Gasometer ist eine Tauchschule untergebracht; dort wo früher Möller gebunkert wurde ist Klettern für Groß und Klein angesagt. In den Feinerzbunkern wurden Gärten zum Verweilen angelegt, in der Gießhalle gibt’s Konzerte, in der Kraftzentrale finden Messen und andere Events statt. Es ist immer etwas los im LaPaDu. Ach ja, das gesamte Areal ist frei zugänglich.
Standort Dinslaken – Emschermündung
Ich folge der Emscher auf ihrem Weg nach Dinslaken. 2021 stinkt es hier noch, Toilettenpapier und andere undefinnierbare Dinge von denen ich gar nicht wissen möchte was es ist, treiben auf der Oberfläche. Heutzutage sollte es besser sein.
Der Rad- und Wanderweg führt direkt an der riesigen Kläranlage vorbei und dahinter steht tatsächlich ein Graureiher im Emscherwasser.
Der Wegrand ist, wie so häufig, nicht gemäht und eine Festwiese für Insekten aller Art.
Dann bin ich am Ziel: die Emschermündung in den Rhein. So sah es im Juni 2021 aus. Aber bald wird der Weg frei sein für die neue Emschermündung. Es ist dann eine naturnahe Auenlandschaft entstanden. „Durch die neuen Auenflächen entsteht an der Emschermündung ein Paradies für Pflanzen und Tiere“, so die Emschergenossenschaft. Außerdem soll das Gewässer durchlässig werden für wandernde Fische. Sie sollen den kleineren Fluss hinab in den Rhein schwimmen können und vom Rhein auch die Emscher hinauf.
Ich kehre mit einigen Tausend Fotos nach Hause zurück und stelle fest, dass ich selten auf einer Wanderung so viele Insekten und Kunstwerke am Wegrand fotografiert habe.
Es gibt viele Wege die alle mehr oder weniger entlang der Emscher führen. Ihr habt die Auswahl:
Emschkunstweg. Seit 2019 ist das Kooperationsprojekt Emscherkunstweg ein permanenter Skulpturenweg (orange Markierung)
Radwandern an der Emscher: Mit dem Fahrrad entlang der Emscher (blaue Markierung)
Emscher-Park-Weg – Zu Fuß unterwegs an der Emscher. GPS Wanderatlas
Emscher-Park-Radweg – der 230 Kilometer lange Radweg durch und um das „Emscherland“, ist einer der Ältesten
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