Berlin im November

Berlin. Klar, das Brandenburger Tor kennen wir alle. Ich hab’s nicht gesehen. Ich war stattdessen in den Prinzessinnengärten. Klingt nach Frauenprojekt – ist es aber nicht. Der Name kommt vom ursprünglichen Standort an der Prinzessinnenstraße in Kreuzberg. Was ist das Besondere der Prinzessinnengärten? Sie befinden sich heute auf dem Neuen Sankt Jacobi Friedhof in Neu-Köln auf einem 7,5 Hektar großen Areal. Es ist ein Gemeinschaftsgarten bei dem sich jeder, der gerade Zeit und Lust hat, mitmachen kann. Dabei geht es um Säen und Ernten, Kompostierung, Saatgutgewinnung, Verarbeitung und Konservierung von Obst, Gemüse und Kräutern. Durch „gemeinsames Ausprobieren und das Austauschen von Erfahrungen und Wissen eignen wir uns alte Kulturtechniken wieder an, lernen wir gemeinsam vieles über biologische Vielfalt, Stadtökologie, Klimaanpassung, Recycling und zukunftsfähige Formen städtischen Lebens“, so die Information auf der Webseite.

Berlin, Prinzessinengärten

Gärtnern auf einem Friedhof? Grünkohl auf dem Grab von Oma Gerda? Ganz so ist es nicht, die Gräber, die auf diesem 2016 stillgelegten Friedhof noch sind, bleiben unangetastet. Bewirtschaftet werden die Freiflächen. Im Wesentlichen wird mit Hochbeeten gearbeitet, aber es gibt auch ein richtiges Feld.

Berlin, Prinzessinengärten
Berlin, Prinzessinengärten

1867 wurde dieser evangelische Friedhof als Alleequartiersfriedhof angelegt. Aufgrund von demografischen und kulturellen Verschiebungen wird heutzutage nicht mehr so viel Friedhofsfläche benötigt. Nach Angaben des Pinzessinnengarten-Kollektivs „beläuft sich die Gesamtfläche der Berliner Friedhöfe auf etwa 1.114 Hektar, von denen etwa 50% Überhangsflächen, die mittlerweile nicht mehr für Beisetzungen genutzt werden, darstellen“. Hurra, Brachland, denken Investor:innen. Berlin braucht doch Wohnungen!  Friedhofsflächen sind aus Pietätsgründen vor bestimmten Nutzungen, wie zum Beispiel kommerzieller Bebauung und Gewerbe, geschützt. An dieser Stelle kommt Urban Gardening ins Spiel. Das sehr rege Kollektiv bietet neben dem Gartencafe auch Workshops an zum Thema Boden, Bienen/Insekten, Artenvielfalt, Lebensmittelverarbeitung, Gärtnern, Müll/Re- & Upcycling.

Berlin, Prinzessinengärten

Der Neue Sankt Jacobi Friedhof grenzt an das Tempelhofer Feld auch bekannt als Tempelhofer Freiheit, die Start- und Landebahnen des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Als das Flughafenareal 2008 stillgelegt wurde, witterten Investor:innen ihre Chance: Hurra, so viel Brachland, das muss genutzt werden; Berlin braucht Wohnungen. Als ich 2021 auf dem Tempelhofer Feld stehe, bin ich erstaunt, dass nichts bebaut wurde. Ich wandere quer über das ehemalige Flugfeld. Berlin braucht bezahlbare Wohnungen, richtig – und frische Luft zum Atmen, Raum für freilaufende Kinder, Raum für große Festivals, Raum zum Radfahren, Skaten, Picknicken. Raum für Insekten, Vögel, Menschen. Die Bürgerinitiative THF100% erreichte, dass das Tempelhofer Feld 2010 für die Öffentlichkeit freigegeben wurde und dass es per Gesetz in dieser Form erhalten bleibt (ThF-Gesetz) – vorest jedenfalls, denn die Diskussion ist noch nicht vorbei.

Berlin,Tempelhofer Feld
Berlin,Tempelhofer Feld

Das Land Berlin ist heute Eigentümer des Flughafengebäudes und des Feldes. Das Flughafengebäude steht unter Denkmalschutz. Ein Teil des Gebäudekomplexes aus Abflughalle, Büroräumen, Kantine, Sporthalle, Hangars ist ganzjährig vermietet, ein großer Teil wird sporadisch vermietet für große und kleine Events von der privaten Hochzeitsfeier in der ehemaligen Abflughalle über Messen und Sportveranstaltungen sowie Filmproduktionen (Die Tribute von Panem, Comedian Harmonists, Operation Walküre) ist alles möglich. Sogar ein Impfzentrum gab es 2021. Gemeine Touristen wie ich es bin, können sich einer öffentlichen Führung anschließen, um die Räume zu besichtigen. Wir tauchen ein in eine völlig andere Welt. Die amerikanische Luftwaffe hatte hier viele Jahre ihr Quartier und so laufen wir heute durch abhörsichere fensterlose Räume mit Kupferplatten unter der niedrigen Decke. Bedrückend ruhig und ohne Hall. Wir stehen mit 15 Menschen im Luftschutzkeller und betrachten die Wandmalereien aus den 30er Jahren. Diese sollten zur Beruhigung der hier Schutzsuchenden mehr als 80 Personen dienen. Für mich scheint der Raum mit 15 Personen schon voll zu sein.

Wir laufen ehrfürchtig 12,5 Meter unter der Erde durch den 1945 ausgebrannten Filmbunker in dem es heute noch verbrannt riecht. Dieser Bunker diente der deutschen Luftwaffe zur Archivierung von Kartenmaterial und Luftbildaufnahmen. Damit dieses wertvolle Material nicht in Feindeshände gerät, wurde es in Brand gesteckt.

Wir wandern durch die pompöse nie genutzte Eingangshalle und genießen die Atmosphäre in der ehemaligen Abflughalle mit 50er Jahre Flair.

Besichtigungen sind möglich über: https://www.thf-berlin.de/ Interessant sind auch reine Fotografentouren durch das Flughafengelände, angeboten von go2know

Dann empfehle ich noch das Oberdeck des Parkhauses im Zentrum von Neu-Kölln: Hier ist der Klunkerkranich zu Hause. Es ist ein kultiger Dachgarten mit großartiger Aussicht sowie Lesungen, Konzerten und natürlich Kulinarischem. Leider war dieser Garten im November 2021 geschlossen.

Beeindruckt hat mich vor allem das Jüdische Museum – das größte seiner Art in Europa. Wenn Du Dich nicht für jüdische Gebräuche, jüdische Geschichte, jüdisches Leben interessierst – macht nichts, geh trotzdem rein! Allein der Bau ist im wahrsten Sinne unfassbar. Ich frage mich, wer sich eine solche Architektur ausdenken kann und wie sie dann auch noch museal bespielt wird? Es gibt kaum rechte Winkel, alles ist geradlinig schräg.

Jüdisches Museum

Du gehst hinein und verlierst Dich in Zeit und Raum. Du schwankst durch die Gänge. Du hast irgendwann keine Ahnung mehr, ob Du oben oder unten bist. Das spielt auch keine Rolle. „Between the Lines“ – zwischen den Linien nennt der Architekt Daniel Libeskind den 2001 eröffneten Bau. Es gibt unter anderem musikalische Installationen („Drummerrsss“) und eine faszinierende Portrait-Foto-Ausstellung von Frédéric Brenner mit dem Titel „Zerheilt“. Brenner wollte jüdisches Leben in Berlin dokumentieren und überließ es den Porträtierten, wie er sie abbilden durfte. Ungewöhnliche und hochgradig emotionale Fotos sind dabei entstanden.

Jüdisches Museum

Daneben gibt es vollkommen leere Räume, die Voids. Sie sind einsehbar, aber bis auf den Memory-Void nicht begehbar. Sie sollen an die Lücken erinnern, welche die Verfolgung der Juden hinterlassen hat. Du berührst den Holocaust – klar – aber er ist bei Weitem nicht das Hauptthema. Berührt hat mich vor allem der Memory-Void mit der Installation „Schalechet – gefallenes Laub“ von Menashe Kadishman. 10.000 unterschiedlich geformte Gesichter aus Stahlblech liegen auf dem Boden verteilt und schauen mich an. Sie sollen an alle Opfer von Krieg und Gewalt erinnern.

Jüdisches Museum

Tief beeindruckend empfinde ich auch einen Raum in dem lange weiße Flaggen an Stäben hintereinander aufgereiht wie Lamellenvorhänge von der Decke herabhängen. Von oben bis unten sind sie bedruckt mit Gesetzen, welche regeln was Juden ab dem angegebenen Tag tun und lassen dürfen. Es sind unglaublich viele. Jeden Tag kam mindestens eine neue Regel hinzu. Ich lese zwei und kann und will den Rest gar nicht lesen. Ich habe eine Gänsehaut. Ich ziehe weiter und lausche dem Gesang eines Rabbi in einer Synagoge und meinem Wunschlied „Halleluja“ in jiddischer Sprache von David Kahn. Das wunderschöne Lied begleitet mich im Ohr für den Rest des Tages. Persönlich erzählte Schicksale gepaart mit ausgestellten Objekten und Video-Interviews machen dieses Museum unglaublich vielseitig und Geschichte wie Gegenwart hautnah erlebbar. Zwei Stunden hatte ich für das jüdische Museum eingeplant – viel zu wenig, ich könnte einen ganzen Tag hier verbringen. Für die Sonderausstellung und den Garten reichte meine Zeit nicht.

Jüdisches Museum

Ich wohne übrigens im Ostbahnhof. Nun ja, nicht ganz, ich wohne im Intercity-Hotel im Ostbahnhof. Ein zweckmäßiges Stadthotel und wer ein Zimmer zum Hof hat, genießt die Nacht bei geöffnetem Fenster in absoluter Ruhe. Vom Ostbahnhof kommst du schnell mit dem ÖPNV in alle Berliner Himmelsrichtungen. Zunächst gehe ich ein paar Meter zu Fuß und bin direkt an der Spree.

Berlin, Spree (Kreuzberg)

Der Berliner ÖPNV ist der einer Metropole, jedenfalls für mich, die ich aus der Wuppertaler Provinz komme. Alle paar Minuten fährt die U-Bahn, selbst die Busse fahren am Abend im Zentrum noch im 15-Minuten-Takt. Der ÖPNV ist schnell und günstig. Das Monatsticket kostet nur die Hälfte von dem was in meiner Heimat der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr verlangt. Das ist vielleicht eine Erklärung warum nur 40% der Berliner ein Auto haben.

U-Bahn, Berlin

Ich höre von ehrgeizigen Projekten: Bis 2030 soll die Prachtstraße Unter den Linden autofrei werden und die Einkaufsstraße Friedrichstraße wird zur Fußgängerzone erklärt. Ansatzweise wurde dieses Projekt schon umgesetzt, Bistrotische und Glasvitrinen säumen den Straßenrand, die Mittelspur gehört Radfahrer:innen. Geschwindigkeitsbegrenzung bei 20 km/h.

Friedrichstraße, Berlin

Nur wenige Meter vom Ostbahnhof beginnt die East Side Gallery, das längste noch erhaltene Stück Berliner Mauer. 118 Künstler:innen aus 21 Ländern gestalteten nach dem Mauerfall dieses 1,3 Kilometer lange Stück. So entstand die längste Open-Air-Galerie der Welt.

Am Ende steht eine der schönsten Brücken Berlins: die Oberbaumbrücke. Auf dem anschließenden Gelände des ehemaligen Osthafens haben sich Clubs und Szenelokale angesiedelt sowie Unternehmen der Musik- und Modebranche.

Ein touristisches Highlight möchte ich doch noch erwähnen: Das Humboldt Forum. An der Stelle des Berliner Stadtschlosses wurde das Gebäude für 677 Millionen Euro neu errichtet und 2020 fertiggestellt. Die Außenseiten und der Innenhof sind dem historischen Stadtschloss nachempfunden, die Innenräume sind hochmodern. Das Humboldt Forum beherbergt neben dem Museum für Asiatische Kunst und dem Ethnologischen Museum auch zahlreiche Räume für Sonderausstellungen. Wem das alles zu viel ist oder wer keine Zeit hat, macht einen Dachspaziergang.