Berlin – die Hupe und der Tierpark

Das Brandenburger Tor ist geschlossen! Abgeriegelt. Auf beiden Seiten mit einem Bauzaun. Ich steh’ im Osten und darf nicht in den Westen! Der Zaun wird bewacht. Ist ja klar, sonst wäre das Drahtgestell ohne Selbstschussanlage kein wirkliches Hindernis. Verrammelt ist das Tor wegen eines Balls. Eines Fußballs. Nein, wegen der Fans des Fußballs. Wir schreiben das Jahr 2024 und es ist Fußball EM. Ich habe nicht so viel Interesse an diesem Ereignis, will mir aber doch die mit Kunstrasen belegte Fanmeile mit zwei überdimensional großen Toren dies- und jenseits des Brandenburger Tores für’s Public Viewing ansehen. Sonntagmorgen um neun Uhr rechne ich nicht mit vielen Fans und schon gar nicht mit der Absperrung.

Ich halte meine Kamera in der Hand und setze meine Trauermiene auf. Der Wachmann mit asiatischem Akzent zeigt Herz oder Mitleid. Er öffnet jedenfalls den Zaun und lässt mich rein! Aber nur kurz und ich muss direkt hinter dem Zaun stehen bleiben, bloß nicht vorlaufen, sonst verliert er seinen Job. Ach, ich hätt’ ihn umarmen können. Es gibt doch nette Menschen! So komme ich zu meinem Foto – das Brandenburger Tor völlig ohne Menschen. Mein Plan war ein anderer, aber so geht es natürlich auch.

Brandenburger Tor
Brandenburger Tor

Um auf die andere Seite des geschichtsträchtigen Tores zu gelangen umrunde ich das Hotel Adlon. Doch weiter komme ich nicht. Hier ist gleich die ganze Straße abgeriegelt. Ein Radfahrer vor mir wird zurückgewiesen, doch die junge Familie (Mutter, Vater, Kind) darf passieren. Ich versuche es. Der in schwarzer Montur gekleidete Herr mit Preisboxerfigur baut sich vor mir auf und erklärt: „Sie dürfen hier nicht durch, Ihr Rucksack ist zu groß.“ Tja, keine Diskussion, dumm gelaufen, was trage ich auch so viel Zeug mit mir rum.

Der angrenzende Wald des Tiergartens ist ebenfalls hermetisch abgezäunt, verrammelt. Kein Durchkommen.

Nun, dann geh’ ich eben wieder nach Osten.

Beim Denkmal für die Ermordeten Juden Europas (von Peter Eisenmann) ist eine Lücke in der Absperrung. Ich betrete die Anlage. Ganz allein. Auf einer Fläche von 19000 Quadratmetern stehen hier 2711 quarderförmige geneigte graue Betonstelen von unterschiedlicher Höhe. Zwischen dem Mauerbau 1961 und 1989 war dies Brachland – der so genannte Todesstreifen. Im Zweiten Weltkrieg stand an dieser Stelle die Stadtvilla von Joseph Goebbels. Bei den Bauarbeiten zum Denkmal kam der Bunker der Goebbelschen Villa wieder ans Licht und wurde im Erdreich versiegelt. Was für ein Ort! Ich bin ganz allein hier. Kein Mensch. Kein Tier. Die Besuchermassen kommen erst ab 10 Uhr. Da bin ich weg.

Über den Potsdamer Platz schlendere ich zum Gropius Bau. Dieses Gebäude kenne ich noch nicht und bin überwältigt. Das 1881 eröffnete Bauwerk des Architekten Martin Gropius stand bis 1990 direkt an der Mauer – auf der Westberliner Seite. Es beherbergte das Kunstgewerbemuseum. Heute finden hier bedeutende Ausstellungen zeitgenössischer Kunst statt. Gerade ist eine Lichtinstallation von Nancy Holt (Circles of Light) aufgebaut. Ich kann nicht so viel damit anfangen, finde aber, es sieht gelungen aus. Gut zu wissen: Der Gropius Bau ist montags geöffnet und dienstags geschlossen.

Meine Füße schmerzen, ich brauche etwas Entspannung. So entscheide ich mich für eine eineinhalbstündige Bootsfahrt auf der Spree. Vom Wasser betrachtet sieht alles etwas anders aus. Die Sonne scheint, ich muss mich nicht selbst bewegen und lasse Regierungsgebäude, Dom und Museumsinsel an mir vorbeiziehen.

Das Hubertusbad

Warum bin ich nach Berlin gefahren? Ich habe eine Fototour durch das Hubertusbad in Lichtenberg gebucht. (über go2know) Im Volksmund wird das Badehaus auch „Hupe“ genannt. Es ist das ehemalige Stadtbad Lichtenberg. Eröffnet wurde es im Jahr 1928 als Städtisches Volksbad.

Hubertusbad

Es war eine Zeit der Industrialisierung. Arbeiter strömten in Massen in die Städte, was zu großer Wohnungsnot führte. Selbst Einzimmerwohnungen wurden noch untervermietet, so lese ich. Wer Nachtschicht hatte, benötigte sein Bett ja nicht während der Nacht. Das heißt, es lebten extrem viele Menschen auf engstem Raum mit zum Teil katastrophalen hygienischen Zuständen. Die ganze Palette an Infektionskrankheiten wie Cholera, Typhus, Pocken, Ruhr, Diphtherie, Masern, Scharlach, Keuchhusten machten die Runde und kosteten viele Menschen das Leben. Namhafte Ärzte wie Robert Koch schlugen Alarm und wiesen darauf hin, dass sich allein durch Körperhygiene viele dieser Infektionen verhindern ließen. Aha. Klingt bekannt, oder? Schon damals galt die AHA-Regel – ich hatte es fast vergessen. Jedenfalls entstand in diesem Zuge eine Städtische Badeanstalt mit Wannen und Brausen (heute würden wir Duschen sagen), damit die Menschen sich für kleines Geld ordentlich waschen konnten.

Stadtbad Lichtenberg

Doch nicht nur das. Es gab zwei große Schwimmbecken – eins für Männer, eins für Frauen. Daneben gab es einen römischen Saunabereich mit Warmluft- und Dampfbädern, Massagekabinen und eine Sonnenterrasse auf dem Dach. Eine Wellness-Oase.

Schon in den 1930ern Jahren wurde die strenge Trennung von Männern und Frauen aufgehoben. Eine Bombe beschädigte das Gebäude während des II. Weltkrieges stark, doch es konnte soweit repariert werden, dass es weiter nutzbar war. Ab 1948 wurden auch die großen Becken wieder für den Schwimmsport hergerichtet. In anderen Stadtteilen entstanden in den Jahren nach dem Krieg neue Schwimmbäder, neue Wohnhäuser wurden gleich mit eigenen Bädern eingerichtet; das alte öffentliche Badehaus wurde bald nicht mehr benötigt. Weil der DDR das Geld fehlte um das Gebäude zu renovieren und auf den neuesten Stand zu bringen, blieb alles im Original erhalten. 30 Jahre schlummerte der Bau im Dornröschenschlaf vor sich hin. Der Eingang war zugemauert.

Doch ab 2018 wurde das Innenleben aufgeweckt. Die kleine Schwimmhalle (das ehemalige Frauenbad) mit ihrem Sprungturm aus Messing wurde mit Parkett über dem ehemaligen Schwimmbecken ausgelegt und kann heute für Veranstaltungen gemietet werden: Hochzeiten, Partys, Ausstellungen.

So viel zur Geschichte. Ich bin hier mit etwa 20 anderen schwer bewaffneten Fotograf:innen. Alle haben ein Stativ dabei, denn stellenweise ist es ziemlich dunkel. Vier Stunden haben wir Zeit das Gebäude zu erkunden. Alte Spinde, Schließfächer, Duschköpfe, Wannen, Fenster mit bröseligen Holzrahmen. Das Gebäude ist riesig und geht über vier Etagen. Bis in den Keller schaffe ich es nicht, es ist einfach zu viel. Ein Grund wiederzukommen.

Weil die Tour schon morgens um 9 Uhr losgeht und die Hotels der Innenstadt recht teuer sind – ich hatte die Fußball-EM bei meiner Planung nicht berücksichtigt – wohne ich nur zwei U-Bahnstationen entfernt am Tierpark. Da liegt es doch nah, dass ich auch den Tierpark besuche. Die Stadt ist ohnehin viel zu voll für mich.

Der Tierpark

Der Berliner Tierpark ist mit 160 Hektar der größte Europas. Ein Teil des Parks wurde bereits 1821 von keinem geringeren als Peter Joseph Lenné als Landschaftsgarten gestaltet. Erst 1955 wurde der Park zum Tierpark. West-Berlin hatte seinen Zoologischen Garten, Ost-Berlin den Tierpark. Immer noch ist der Tierpark ein großer Landschaftsgarten und zwischendrin wurden weitläufige Anlagen für Tiere angelegt. Mehr als 8000 an der Zahl aus 639 Arten.

Tierpark Berlin

Gut zu Fuß sollten Besucher:innen schon sein: Ich laufe an diesem Tag mehr als 20 Kilometer. Direkt hinter dem Eingang werde ich von Baumstachlern und Präriehunden empfangen. Alle sind sehr lebhaft, die Baumstachler haben ein Jungtier, die Präriehunde gleich einen ganzen Kindergarten.

Im Lauf des Tages entdecke ich Tiere, die ich noch nie gesehen, geschweige denn fotografiert habe: Gavial, Streifenhyäne, Bärenkuskus, Königsgeier um nur ein paar zu nennen.

Das Schwimmbecken der Eisbären fasst 2000 m³ Wasser. Der seitliche Wasserfall ist auch im Winter in Betrieb. Die beiden Bärinnen fühlen sich sichtlich wohl und spielen im Wasser.

In einer großen Freifluganlage, zur einen Seite von einer hohen Felswand begrenzt, leben mehrere Geierarten. Schöne Tiere, wirklich. Besonders gefallen hat mir der Bartgeier mit seinen weißen „Federstiefeln“.

Auf dem bepflanzten, etwa 67 Meter hohen Berg (aus Trümmern der Nachkriegsjahre) befindet sich die acht Hektar große Himalaya-Welt. Zu DDR-Zeiten gehörte der Hügel zwar zum Park, war jedoch für die Öffentlichkeit gesperrt. Die benachbarte Bezirksverwaltung wollte sich nicht in die Fenster schauen lassen. Jetzt ist der Berg Heimat für Manul, Weißlippenhirsch, Luchs, Riesenadler, Schopfhirsch, drei Takin-Arten, Pater-David-Felsenhörnchen und dem Roten Panda.

Besonders faszinierend und exotisch finde ich die Ausstellung Dino-Welt. Wieder Tiere von denen ich zum Teil noch nie gehört habe. Im Wald und auf Wiesen stehen neben dem T-Rex auch kleinere wie der Triceratops, der Pterodaktylus und der Quetzalcoatlus mit einer Flügelspannweite von 10 Metern. Er war das größte flugfährige Wirbeltier, das jemals auf der Erde gelebt hat. Eine großartige Ausstellung. Und das Beste: „Er bewegt sich, er bewegt sich“, ruft das Kind im Vorschulalter und weist aufgeregt hüpfend mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Schwanz eines Riesen. Ja, sie bewegen sich! Der eine wackelt mit dem Schwanz, der andere nickt mit dem Kopf, er kaut, brüllt, schnaubt. Gern hätte ich mich mehr damit beschäftigt und die Dino-Ralley mitgemacht. Doch mir fehlt die Zeit.

Ach ja, ein Schloss gibt es auch noch: Schloss Friedrichsfelde – das Wahrzeichen des Tierparks. Es wird für Konzerte und andere Veranstaltungen genutzt. Ebenfalls erwähnenswert sind die Abfalleimer. Ja, die Mülleimer. Sie fallen auf und gefallen mir weil sie mit unterschiedlichen Sprüchen beklebt sind: Die artgerechte Müllhaltung gefällt mir am besten.

Ein rundherum toller Park in dem ich mich locker eine Woche aufhalten könnte. Nicht ohne Fotoapparat, versteht sich. Einziges Manko: Die Tageskarte berechtigt nur zum einmaligen Eintritt! Gehst Du raus – um zum Beispiel im nahen Supermarkt Verpflegung zu kaufen oder gar beim Italiener etwas zu essen, hast Du verspielt. Das war nämlich mein ursprünglicher Plan für’s Mittagessen, weil ich keine Lust auf das übliche Bratwurst/Pommes-Angebot hatte. Aber nochmals 20,- Euro Eintritt zahlen will ich nicht, so bleibt mir nichts anderes übrig als das erstbeste Restaurant im Tierpark anzulaufen. Doch ich werde angenehm überrascht. Im Terrassencafe Kakadu gibt’s keine Pommes, sondern zehn verschiedene Nudelgerichte. Ich esse Nudeln mit Mango-Kokos-Sauce. Lecker. Serviert im Porzellanteller mit ordentlichem Besteck – kein Einweg-Wegwerf-Zeug. Mein Tag ist gerettet. Auf den hausgemachten Kuchen verzichte ich schweren Herzens, denn ich bin satt.