Das Erste was ich sehe, nachdem ich auf dem eingleisigen Bahnsteig in Crossen Ort aus dem pünktlich eingefahrenen Zug gestiegen bin, ist der kleine Platz vor der Sankt Michaelkirche. Am Rand des Platzes, zwischen Bäcker und Blumenhändler, ist ein Stehtisch aufgebaut. Blauer Überwurf, drei adrett gekleidete Menschen, um die 30 Jahre alt gruppieren sich um den Tisch. Ein Dackel, vorschriftsmäßig angeleint, wartet geduldig am Fuß des Tisches. Es ist ein Infostand der AfD. Ich überlege kurz, ob in Thüringen schon wieder Wahlkampf ist – nein, dem ist nicht so. Man ist einfach nur präsent. Willkommen in Crossen an der Elster. Im Gemeinderat sitzen im Jahr 2025 die Crossener Wählervereinigung mit gut 28% gefolgt von der AfD mit beinahe 19%. Die großen Parteien des Bundestages kommen nicht vor.
Crossen an der Elster. Im Jahr 995 erstmals urkundlich erwähnt. Am Bahnhof Crossen fällt mir auf, dass auf dem Bahnhofsgebäude Krossen mit K geschrieben steht. Erst seit 1991 wird Crossen mit C geschrieben, erfahre ich durch Wikipedia. Dieser Bahnhof war vor vielen Jahren ein Warenumschlagplatz, heute ist das Gebäude zum großen Teil ungenutzt.
Ich bin auf dem Weg zur gebuchten Ferienwohnung. Mein Handyakku hatte eine Spontanentladung und so wandere ich auf gut Glück meinem Bauchgefühl und meinem fotografischen Gedächtnis folgend. Zu Hause hatte ich mir den Weg auf dem Plan angesehen. Das ist allerdings schon mehr als sieben Stunden her. Ich frage eine ältere Dame mit Hund nach der Straße der Einheit. „Ach, wohnen Sie in dem Ferienappartement“? „Ja“.
Crossen ist ein Dorf mit 1600 Einwohnern, da kennt man sich. Sie beschreibt mir den Weg und es sind tatsächlich nur 10 Fußminuten bis zum Bahnhof Crossen Ort. Sofern man keine Umwege läuft, wie ich. Ich passiere die Straße der Stahlwerker. Die FeWo ist im ersten Stock eines typischen Werkssiedlungsgebäudes. Neu renoviert, eingerichtet im Stil eines bekannten skandinavischen Möbelhauses. Alles großzügig, nett, sauber. Leider kein W-Lan. Nun, dann gehe ich halt in Klausur und in den Wald.
Ein schöner Wanderweg führt, laut Karte, zum nächsten Dorf, Etzdorf. Was auf der Karte wie ein guter, einstündiger Rundweg aussieht endet in hohem Gras auf einer Kuhwiese. Hier lebt eine Großfamilie Kühe und mindestens ein Bulle. Alle sind sehr interessiert und neugierig. Die tun bestimmt nix, sage ich zu mir. Mitten über die Wiese möchte ich dennoch nicht laufen und marschiere auf dem selben Weg zurück.
Crossen Ort ist nett mit kleinem Stadttümpel, der von einer Kolonie Frösche bewohnt wird, einem Brunnen, der wohl an die zahlreichen Brauereien an der Elster erinnern soll und einer ganz hervorragenden Bäckerei. Es gibt außerdem ein gut bürgerliches Restaurant, aber die Betreiber machen gerade Urlaub. Gut, dass ich in meiner Ferienwohnung autark bin.
Schloss Crossen
Warum bin ich ausgerechnet hier gelandet? Das Dorf hat ein Schloss. Schloss Crossen. Es thront auf einer Anhöhe über der Ansiedlung; die Uhr des Bergfrieds aus dem Jahr 1250 ist weithin sichtbar. Sie funktioniert sogar noch.
Der Rest des Schlosses war einige Jahre dem Verfall preisgegeben. Dabei hat es eine lange, bewegte Geschichte. Bereits im Jahr 995 übergab Kaiser Otto III dem Bistum Zeitz eine Burg zum Schutz wichtiger Handelsstraßen. Nachdem die Burg während der Hussitenkriege geschleift wurde, übernahm 1585 Hauptmann von Wolframsdorf die Burgruine und baute sie aus. Doch auch dieses Schloss wurde abgerissen. Erst 1724 kommt ein Kaufmann aus Leipzig und baut ein prachtvolles Barockschloss an die Stelle der ehemaligen Burg. Malerei und Stuckarbeiten werden von namhaften italienischen Künstlern gefertigt. Bis 1925 wird Schloss Crossen gehegt, gepflegt und ausgebaut. Zuletzt bewohnte es die Autorin Elisabeth von Heyking mit ihrem Mann. Die Räume waren mit chinesischen Seidentapeten und anderen Kostbarkeiten ausgestattet. Nach ihrem Tod 1925 erbte Edmund von Bockum-Dolffs das Gebäude, verkaufte alles was wertvoll war und ließ das Haus verfallen. Erhalten blieb einzig der prachtvolle Festsaal.
1937 ersteigerte der damalige Pächter der Brauerei Köstritz das Schloss. Innerhalb kurzer Zeit wurden alle Gebäude in Stand gesetzt, das Schloss war wieder bewohnt. Im Zweiten Weltkrieg wurde Schloss Crossen Ausweichlager für die Wehrmacht und später Flüchtlingslager. Danach sollte es abgerissen werden. Doch das Institut für Lehrerbildung zog ein und bis 1991 wurden hier jährlich etwa 330 Studierende unterrichtet. 2007 wurde das Gebäude an irische Investoren verkauft; diese ließen es verfallen. Kurz vor der Zwangsversteigerung kaufte die Stadt Köstritz das Schloss und 2018 konnte die Gemeinde Crossen ihr Schloss übernehmen. Gerade wird die Fassade des Schlosses mit Landesmitteln saniert. Über die weitere Nutzung / Sanierung der Innenräume habe ich leider nichts herausgefunden. Öffentlich sind die Gebäude nicht zugänglich. Es sei denn, man hat eine Sondergenehmigung. So wie ich. Ich bin mit einer Fotogruppe mit go2know für fünf Stunden in den Gebäuden und auf dem Wehrturm von 1250.
Gera
Crossen liegt 15 Kilometer von Gera entfernt. 10 Minuten mit dem Zug. Dieser fährt ein Mal pro Stunde und ist meist recht voll. Gera ist eine nette Kleinstadt. 2007 gab es eine Bundesgartenschau und es gibt noch viel Grün in der Stadt. Ich laufe durch den ehemaligen Gartenschau-Park zum Tierpark. Dieser liegt in einem großen Waldstück, dem Martinsgrund. Hauptsächlich heimische Tiere werden gehalten, aber unter anderem auch Lamas, Alpakas und Kängerus. Füttern erlaubt. Aber nur mit Futter, das direkt an der Kasse erworben wird.
Außerdem hat Gera einen berühmten Sohn: Otto-Dix. Das Geburtshaus des Malers ist heute Museum und kann besichtigt werden. Es liegt direkt hinter der Sankt Marienkirche.
Bad Köstritz
Nach Bad Köstritz sind es nur sechs Kilometer. Mit dem Auto über die B7. Ich entscheide mich, zu Fuß zu gehen. Die Sonne scheint. Ein Kuckuck ruft. Nein zwei. Es scheint eine morgendliche Unterhaltung oder die Markierung der Reviergrenzen zu sein. Ein Feldlerche trällert. Wann habe ich das letzte Mal eine Feldlerche gehört? Ein Rehbock bellt. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Ich laufe über die historische Elsterbrücke von 1904. Ein Gedenkstein weist darauf hin, dass zwei junge Männer, Paul Werner und Paul Hamel, im April 1945 die Sprengung der Brücke verhinderten.
Der geteerte Weg verläuft zunächst für Wanderer etwas langweilig gerade parallel zur Elster, aber dann geht es auf einem unbefestigten Pfad in den Wald hinein. In Tauchlitz gibt es einen kleinen Grillplatz direkt am Fluss mit Backofen. Wie idyllisch! Wenige Meter weiter steht ein großes mehrstöckiges Gebäude. Hier befand sich bis 1920 die Elsterthal Brauerei.
Der Weg geht jetzt ein Stück an der Straße entlang, aber ein Auto kommt nur hin und wieder. Knallgelb blüht der Raps auf den Feldern rechts und links der Straße.
In Silbitz brauche ich eine Rast. Ich lasse mich am Dorfanger nieder und trinke einen Schluck Wasser. An der Bushaltestelle mir gegenüber sitzen zwei Frauen und ein Mann. Doch es kommt kein Bus, sondern ein Kleintransporter. Die Fahrerin hubt mehrfach rhythmisch und hält an der Bushaltestelle. Die Längsseite des Wagens öffnet sich nach oben: Ein Bäckereiwagen.
Mittwochs und Samstags hält er hier. Es gibt echtes Vollkornbrot, aber auch „richtige“ Brötchen, wie der männliche Kunde hoch erfreut feststellt. Mich interessieren vor allem die süßen Teilchen. Ich erstehe eine Joghurt-Himbeer-Sahne-Schnitte und verzehre sie direkt. Warum soll ich sie auf meinem Rücken mit mir rumtragen? Gaumen und Magen freuen sich viel mehr!
Gut gestärkt marschiere ich weiter. Schon bin ich wieder im Wald, ein Stück bergauf, ein Stück bergab, ein Stück entlang der Elster. Ein Kornfeld mit blühendem Wildblumen-Randstreifen. Wildgänse streiten sich. Schön ist’s.
Dann tauchen sie auf, die hohen Silbertürme der Brauerei von Bad Köstritz. Als ich 1991 zum ersten Mal in Leibzig war, wurde mir abends in einer Kneipe als Bier vom Fass „Urkröschtizer“ angeboten. Ich hatte noch nie von diesem Bier gehört, dabei ist die Köstritzer Schwarzbierbrauerei eine der ältesten in Deutschland (seit 1543). Heute gehört Ur-Köstritzer zu meinen Lieblingsbieren. Bis nach Leipzig muss ich dafür auch nicht mehr fahren. Es ist schön, die Produktionsstätte zu sehen, wenn auch nur von außen, für eine Besichtigung hätte ich mich vorher anmelden müssen. Schön, dass es wenigstens eine der vielen einstigen Brauereien geschafft hat zu überleben. Heute gehört sie zur Bitburger Braugruppe.
Ich laufe durch den ehemaligen Schlosspark und zum Bahnhof. Dieser liegt etwa 15 stramme Fußminuten außerhalb des Zentrums. Ein völlig verlassener Bahnhof mit einem stattlichen Bahnhofsgebäude. Hier war mal viel mehr los, heute stehe ich allein auf dem Bahnsteig. Der Zug zurück nach Crossen fährt pünktlich ein.

Warten auf den Zug
Tags darauf habe ich nicht so viel Glück. Von Crossen Richtung Leipzig, zwei Stationen mit dem Zug, liegt Zeitz. Ich lese, dass im dortigen Schloss Moritzburg Europas größte Kinderwagensammlung ausgestellt wird. Das klingt interessant. So marschiere ich zum Bahnhof Crossen Ort. Dies ist der zentrale Haltepunkt, der eigentliche Bahnhof Crossen liegt mehr in einem Industriegebiet.
Also, wer ins Zentrum von Crossen möchte, wählt als Haltstelle Crossen Ort. Ein Mal pro Stunde fährt ein Zug über Gera nach Saalfeld und ein Mal in der Stunde in die Gegenrichtung nach Leipzig.
Immerhin gibt es eine elektronische Anzeige. Zwei Minuten vor dem planungsmäßigen Eintreffen meines Zuges erscheint die Meldung, dass dieser leider 25 Minuten Verspätung habe. Die Verspätung weitet sich auf 40 Minuten aus. Warum sollte es in diesem Teil Deutschlands anders sein, als daheim in Nordrhein-Westfalen? Die 40 Minuten verstreichen, die elektronische Anzeige zeigt plötzlich den nächsten Zug an, von dem verspäteten Vorgänger fehlt jede Spur. Fahrpläne der Bahn sind eben doch nur noch unverbindliche Empfehlungen. Wer also, wie ich, tapfer durchhält und immer noch mit der Bahn fährt, übt sich in Resilienz. Ich mache ein paar Spaßfotos mit dem Titel „Warten auf den Zug“.
Zumindest ist es kein Warten auf Godot, denn die Bahn kommt tatsächlich – mit einer Stunde Verspätung. Für kaum 10 Minuten Gesamtfahrzeit eine stramme Leistung.
Zeitz
Zeitz ist knapp 20 Kilometer von Crossen entfernt, liegt aber bereits in Sachsen-Anhalt. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Zeitz zu einer Industriestadt mit einem bedeutenden Bahnknotenpunkt.
Fünf Signalanlagen und viele Gleise sind immer noch zu sehen, genutzt werden aber gerade nur zwei. An etlichen Bahnsteigen wird gebaut.
Das Bahnhofsgebäude steht unter Denkmalschutz und gehört seit 2016 der Stadt Zeitz. 2023 feierte man die Fertigstellung der Sanierung, erfahre ich dank Wikipedia. Mich wundert’s, denn heute, 2025, sind alle Zugänge verrammelt. Sehr schade. Ich wäre gern durch die lichtdurchflutete Empfangshalle gewandelt. Aber vielleicht wird ja demnächst alles auch für Reisende geöffnet. Auf der Homepage der Bahn erfahre ich nichts über diesen Bahnhof, außer dass es Taxis und Parkplätze gibt.
Schwerindustrie und Maschinenbauunternehmen hatten einst in Zeitz ihren Sitz. Die Zeitzer Kinderwagenindustrie war auch nach dem Zweiten Weltkrieg über die Stadt hinaus bekannt (VEB Zekiwa). Dann kam die Wende und die Deindustriealisierung. Viele Betriebe stellten ihre Produktion ein. Nur einige wurden von größeren Unternehmen übernommen, wie etwa die Zuckerfabrik durch Südzucker und die Schokoladenmanufaktur Zetti von Goldeck. Die Stadt verlor ein Drittel seiner Einwohner. Die Landesgartenschau 2004 brachte einen schönen Park mit Schloss Moritzburg im Zentrum. Schloss Moritzburg diente Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz als Residenz. Heute befindet sich das Kinderwagenmuseum im Schloss – doch es schließt bereits um 16 Uhr. Ich bin zu spät gekommen.
Da bleibt dann nur noch der Weg in die Altstadt. Ich bin ziemlich traurig als ich zu Fuß von dem schmucken Schloss Moritzburg den Berg zur Altstadt hinauf wandere. In einigen Straßen stehen ganze Häuserzeilen unbewohnt und kurz vor dem Zerfall. Das Rathaus wurde rausgeputzt und renoviert, das Franziskanerkloster sieht auch gut aus. Der Rest spiegelt das Bild einer Stadt, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Das hilft nur noch ein gutes Essen und ein Bier.