„Nach Ladakh kommen nur gute Freunde oder schlimme Feinde“ – so lautet eine tibetische Weisheit. Das kann ich jetzt gut verstehen, denn nach vier Tagen Fahrt in einem mehr oder weniger modernen Kleinbus bin ich endlich in der „Hauptstadt“ Leh angekommen.
Das ehemalige Königreich Ladakh gehört heute zum indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Mit dem Mutterland hat Ladakh allerdings wenig gemein, denn 90% der Ladakhi sind Buddhisten und sprechen einen tibetischen Dialekt. Häufig wird das Land auch als Klein-Tibet bezeichnet, da sich hier tibetischer Buddhismus in seiner ganzen Vielfalt erhalten hat und praktiziert wird.
Ich starte mit einer kleinen Reisegruppe am frühen Morgen in der schwül, heißen Hauptstadt Delhi und erreiche nach einer ereignislosen, eher langweiligen Fahrt am Abend Manali. Der Ort liegt in 1.900 m Höhe, Landschaft und Vegetation erinnern mich stark an den Schwarzwald. Manali ist die letzte größere Stadt, ich kaufe Proviant und unser Bus wird für die kommende dreitägige Fahrt ein letztes Mal aufgetankt. Von nun an geht es nur noch bergauf und bergab. Die Passstraße ist eineinhalbspurig mit Ausweichmöglichkeiten für den LKW-Gegenverkehr, ohne Leitplanken, endlosen Spitzkehren und 1000en Schlaglöchern. Ein Heer von armselig gekleideten Arbeitern attackiert mit Hammer, Meißel, Spitzhacke und Schaufel kleinere und größere Erdrutsche die den Weg blockieren. Unser Bus erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 15 kmh. Nach zwei Stunden Pistenfahrt erreichen wir den Rothang La. Mit 3974 m ist er bereits 1000 m höher als die Zugspitze; der Bus schnauft, heult und klappert aber er schafft es.
Die Landschaft ist gigantisch: Dunkle, bizarre Felsbrocken wechseln mit hellem Geröll, an manchen Stellen blühen rote Blumen, die aus dem Gestein zu wachsen scheinen, tiefe Schluchten, breitere Täler und über allem ein stahlblauer Himmel. Am 3. Tag bin ich schon ganz meschugge im Kopf von all den Spitzkehren, da kommt wie eine Fata Morgana die Moore-Ebene in Sicht. Eine 35 km lange Hochebene durch die schnurgerade die Straße führt. Ich denke erfreut: Juchuu, endlich mal geradeaus fahren und ein entspanntes Nickerchen halten. Der Busfahrer denkt: Juchuu, endlich mal den Bus mit 40 kmh ausfahren! Nach 30 Sekunden findet die Vorfreude ein jähes Ende, denn die Straße besteht hauptsächlich aus Bodenwellen einem Waschbrett ähnlich und ersetzt jede Achterbahn. Da der Bus praktisch keine Stoßdämpfer hat, werden die Reisenden wie hilflose Flummis auf und nieder geworfen; Kleidung, Gepäckstücke, Trinkflaschen, Proviant und was sonst nicht fest verschraubt ist, fliegt durch den Bus. Nach 45 Minuten ist die Tortur vorbei: Endlich wieder Kurven!
Noch einmal geht es hoch hinauf, dieses Mal bis auf 5.324 m. Der zweithöchste befahrbare Pass der Welt, der Taglang La, erwartet uns mit Kälte und Nieselregen. Trotzdem bin ich froh, dass wir aussteigen dürfen, denn meine Blase drückt erheblich. In der Höhe sollen wir viel Trinken und daran habe ich mich brav gehalten. Erwartungsvoll springe ich aus dem Vehikel. Doch ich habe die Höhe und die Sauerstoffarmut nicht einkalkuliert: Wie besoffen torkele ich umher, mir ist schwindelig, mir ist kalt, mein Kopf droht zu zerspringen und ein gemütliches Toilettenhäuschen gibt es natürlich nicht. Aber einige Relikte des Straßenbaus in Form von schwarzen Teerfässern. In der kahlen, vegetationslosen Einöde ein fast ideales Pendant zum „Toilettenbaum“. Diese Idee hatten zwar schon Generationen von Reisenden vor mir, aber das stört in diesem Moment wenig. Erleichtert steige ich zurück in den Bus.
Nur wenige Kilometer nach dem Pass und einige hundert Meter tiefer lassen die Kopfschmerzen nach, der Himmel reißt auf, die Sonne beleuchtet ein sattgrünes, langsam breiter werdendes Tal. Der Indus – hier ein etwa ruhrbreiter Fluss – schlängelt sich gemächlich mittendurch. Junge Esel springen übermütig auf den Wiesen, bunte Gebetsfähnchen flattern auf den Dächern der einstöckigen Lehmhäuser, farbenfroh gekleidete Menschen schneiden mit Sicheln die reife Gerste auf den Feldern. Eingerahmt wird das Tal von mehr als 6000 m hohen, kahlen Bergen mit einer weißen Schneekappe. „Shangri La“, so habe ich es mir vorgestellt! Die Luft ist angenehm warm und trocken, Kinder stehen am Wegrand und winken, der Weg hat sich gelohnt! Zurück bin ich übrigens geflogen: Eine Stunde und fünf Minuten benötigt der Jet für die gesamte Strecke. Doch die Eindrücke der Hinfahrt möchte ich nicht missen, denn wie sagte schon Gautama Buddha: Der Weg ist das Ziel!
Literaturempfehlungen:
-
- Ladakh und Zanskar, Reise Know-How, Reiseführer
- Leben in Ladakh, Helena Norberg-Hodge, Sachbuch
- Der verlorene Horizont / Shangri La, James Hilton, Roman
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