Wo der Postmann zu Fuß hingeht – Reinigeadal

Fröstelnd und durchnässt stehen wir vor unserer Unterkunft. Drinnen wartet die heiße Dusche, ein trockener Pulli und eine heiße Schokolade. Wunderbar. „Den Weg den Ihr heute gelaufen seid, ist der Briefträger bis vor einigen Jahren drei Mal pro Woche marschiert. Mit Post und Päckchen unterm Arm.“ Wir – mein Mann und ich – waren in Rèinigeadal (engl. Rhenigidale). Nie gehört? Das Dorf liegt auf Nord-Harris, eine Insel der Äußeren Hebriden nordwestlich vor der Küste Schottlands. Die Äußeren Hebriden sind grüne, sanft hügelige und spärlich bevölkerte Inseln. Schafe gibt es mehr als Einwohner.

Wir haben am Vortag bei Sonnenschein dieses B&B in Tarbert bezogen. Tarbert ist mit überschaubaren 500 Einwohnern der Hauptort von Harris. Es gibt ein paar Shops, einen Pub, einen Bankautomaten, eine Touristeninformation und einen Hafen in dem die Fähren von und nach Uig auf Skye (Innere Hebriden) anlegen.Harris, Tabert

Wir sind zum Wandern auf die Hebriden gereist. Der Himmel ist heute ziemlich grau und dicht bewölkt, aber das hat nichts zu bedeuten. Wenn wir Glück haben kommt die Sonne raus, wenn wir Pech haben fängt es an zu Regnen. Wir marschieren los, zunächst an der Straße entlang bis zum Abzweig Rèinigeadal.

Postbotenweg nach Reinigeadal

Hier stehen mehrere Hinweisschilder, der Weg ist gut erkennbar. Bis nach Rèinigeadal sind es 5,75 km, also gut 11 km hin und zurück. Ein Sonntagsspaziergang. Da müssen wir hinauf. Ab in die Wolken. Der Weg ist teilweise gepflastert – bei dem meist moorigen Untergrund wirklich komfortabel.

Dann sind wir in den Wolken, etwa 300 m über dem Meeresspiegel sehen wir kaum die Hand vor unseren Augen. Die Landschaft ist im Einheitsgrau verschwunden.Postbotenweg nach ReinigeadalNach dem Pass wird der Weg schmaler, wir sind wieder knapp unter den Wolken und – hurra – das Meer kommt in Sicht und dort scheint es heller zu sein! Frohen Mutes der Sonne entgegen marschieren wir den steilen Pfad hinab, immer schön mit dem Oberschenkelmuskel stoppend damit die Knie geschont werden. In meinem Hinterkopf flüstert zaghaft eine Stimme: „Was Du jetzt runter gehst, musst Du am Nachmittag wieder hoch laufen!“ Egal. Wir wollen ans Wasser.

Postbotenweg nach Reinigeadal

Jetzt, Ende August, fängt die Heide gerade an zu blühen und hüllt den gesamten Hang in sattes Lila. Wir queren eine stabile Fußgängerbrücke und stiefeln auf der anderen Seite den Berg wieder hinauf, zum Glück nur ein kurzes Stück, dann geht’s am Hang entlang mit Aussicht auf Loch Trolamaraig.

Postbotenweg nach Reinigeadal

Rechts und links des Weges bemerken wir die Ruinen eines verlassenen Ortes und erinnern uns, was wir zur Geschichte der Hebriden gelesen haben: Große Landbesitzer hatten seit Jahrhunderten ihre Ländereien an Kleinbauern verpachtet und lebten recht gut von den Einnahmen. Etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, im beginnenden Industriezeitalter, stiegen die Preise für Wolle derart, dass die Pacht der Kleinbauern geringer ausfiel als mit dem Ertrag von Schafzucht erzielt werden konnte. Um an diesem Kuchen zu partizipieren, wollten die Gutsbesitzer mehr Schafe halten;Barra, Castle Bay dazu brauchten sie mehr Weidefläche. Dass auf der potentiellen Weidefläche zum Teil seit Generationen Pächter und landlose Kleinbauern wirtschafteten, war für die Eigentümer zweitrangig.

Postbotenweg nach ReinigeadalHeute würde man sagen die Gutsherren meldeten Eigenbedarf an und setzten diesen mit Nachdruck durch. Die Bauern, die so genannten crofter, mussten sich häufig sehr kurzfristig eine andere Bleibe suchen. Mancherorts wurden komplette Dorfgemeinschaften einfach aufgelöst und die Häuser zerstört.

Der schottische Geologe Archibald Geikie beschreibt in seinen Erinnerungen Jahrzehnte später die Räumung von Suishnish auf Skye im Jahre 1854: „Es war eine bunt gemischte Ansammlung mindestens dreier Generationen von Bauern. Es waren alte Männer und Frauen, zu schwach um zu gehen, die in Schubkarren gefahren wurden, die jüngeren Mitglieder der Familie zu Fuß, ihre Kleiderbündel und ihre Haushaltsgegenstände tragend. Neben ihnen liefen Kinder mit ängstlichem Blick. […] Als sie sich wieder in Bewegung setzten, klang ein klagender Schrei zum Himmel hinauf, der lange traurige Zug, wie ein Beerdigungsmarsch, zog weiter und als die letzten Vertriebenen hinter dem Hügel verschwanden schien es, als würde das Echo im ganzen weiten Tal von Strath als Verzweiflungsschrei widerhallen. Die Menschen sollten nach Kanada verschifft werden! Ich bin seitdem oft über den verlassenen Boden Suishnishs gewandert. Nicht eine Seele ist dort noch zu sehen, aber die grüneren Stellen am Boden und die eingestürzten Mauern [deuten auf einen Ort], an dem einst eine lebhafte und glückliche Gemeinschaft lebte.“ Genauso hat es sich an vielen Orten auf den Hebriden und dem schottischen Festland zugetragen.

Die Auswanderung nach Nordamerika oder Australien wurde den Bauern schmackhaft gemacht indem der Gutsherr sogar die Schiffspassage bezahlte und ihnen in der neuen Heimat Land versprach. Nach der strapaziösen Ozeanüberquerung wartete jedoch meist gar kein Land auf sie, sondern vielmehr Indianer, die ihren eigenen Grund und Boden verteidigten. Gingen die Bauern nicht freiwillig, wurden sie mit Gewalt auf Auswandererschiffe gebracht.

Ein paar Hundert Meter weiter blicken wir auf unser Ziel: Rèinigeadal. Es gibt vier bewohnte Häuser, 12 Menschen leben hier. Sie leben von Saisonarbeit und Landwirtschaft. Sie halten Schafe. Für den Eigenbedarf. Öffentliche Einrichtungen gibt es nicht. Der nächste Laden ist in Tarbert. Wer mal eben mit Freunden ein Bierchen trinken möchte, muss dorthin fahren. Heute geht das. Die Straße wurde 1990 fertiggestellt. Davor erreichte man den Ort nur mit dem Boot oder zu Fuß – wie der Postmann. Doch eine wunderbare Einrichtung gibt es seit 1962: Ein Hostel. Wie bei allen Hostels auf den Äußeren Hebriden ist eine Reservierung nicht möglich, der Wanderer muss nur rechtzeitig vor Ort sein. Und wenn nicht? Weggeschickt wird niemand – dann findet sich ein Dach über dem Kopf. Sein Essen muss der Hostelbesucher allerdings selbst mitbringen, auch das ist so üblich.

Wir haben unser Bett in Tarbert gebucht und machen uns auf den Rückweg. Am Hang entlang, den Berg hinunter, den nächsten steil wieder hinauf. Rauf ist nicht so schlimm wie runter, stelle ich wieder mal erfreut fest.

Postbotenweg nach ReinigeadalZurück in die Wolken und auf den letzten Metern, als wir in weiter Ferne schon wieder die Häuser von Tarbert sehen, erwischt uns der Regen dann doch noch. Heftigst. Wie aus Eimern prasselt das kühle Nass auf uns nieder. Natürlich tragen wir Regenkleidung. Ohne diese fährt man nicht auf die Hebriden. Hose und Füße werden trotzdem nass, es fließt einfach irgendwo hinein. Wie schön, ein warmes, trockenes Zimmer zu haben!

Als wir abends kurz vor Sonnenuntergang einen Blick aus dem Fenster werfen, ist die Bewölkung aufgelockert. Regen? Wo? Wann? Typisch Hebriden.Harris, Tabert

Organisiert wurde unsere Hebridenreise von Mick Blunt, den ich an dieser Stelle gern weiterempfehle:

Hidden Hebrides