El Chepe – Zugfahrt in Mexiko

Ich liebe Zugfahren. Seit 30 Jahren schwirrt diese Strecke durch meinen Kopf, aber irgendwie hatte es nie gepasst. Doch jetzt ist es soweit: Ich werde mit dem Chepe fahren. Noch nie gehört? Dabei ist es eine der schönsten Bahnstrecken Amerikas – der Ferrocarril Chihuahua Pacífico (kurz Chepe) verbindet die mexikanische Küstenstadt Los Mochis mit der Stadt Chihuahua im gleichnamigen Bundesstaat.

Ich habe ein Ticket des 1.Klasse-Expresszuges gebucht. Vom Sitzkomfort macht es keinen wirklichen Unterschied. Von Vorteil ist jedoch, dass man länger im Voraus reservieren kann und beliebig viele Stopps kostenfrei einbauen darf. Ich beginne meine Reise in El Fuerte an der Pazifikküste. Der Zug hingegen startet schon in Los Mochis – um 6 Uhr morgens. Frühes Aufstehen macht mir nichts, aber El Fuerte ist der nettere Übernachtungsort. Die Häuser um den historischen Stadtkern sind renoviert und herausgeputzt. Einst war das Städtchen durch die Silberminen in den Schluchten des Kupfercanyons das bedeutendste Handelszentrum Nordwest Mexikos. Heute geht es beschaulich zu. Es gibt zahlreiche Restaurants und etliche wunderschöne Hotels in historischen Bauten. Ich bin nicht die einzige Touristin mit der Idee, in El Fuerte zu übernachten. Mein Zimmer habe ich im „Torres del Fuerte“gebucht. Das Gebäude ist 400 Jahre alt und war einst eine Hazienda. Alle Räume sind unterschiedlich eingerichtet und strahlen eine rustikale Eleganz aus. Es gibt einen großen, von blühenden Blumen und Büschen umgebenen idyllischen Garten, der gern von Hochzeitsfotografen genutzt wird.

Hotel Torres del Fuerte, El Fuerte

Acht Uhr am nächsten Morgen. Touristen reihen sich am Bahnsteig von El Fuerte auf, ganz artig hinter der gelben Linie, wobei sie vorher noch über die Gleise gehüpft sind.  Groß und mächtig stampft die kastenförmige schwarze Lokomotive mit lautem Hupen ein. Sie entstammt einer anderen Zeit. Der Schaffner in schickem Livree kontrolliert die Fahrkarten gleich beim Einsteigen. Die Sitze sind dick gepolstert und bequem. Etwas in die Jahre gekommen vielleicht, aber immer noch sehr gut. Ich habe einen Viererplatz erwischt; dieser hat im Gegensatz zu den anderen Sitzen wenig Beinfreiheit. Egal. Ich brauche ohnehin keinen Platz. Das stelle ich aber erst nach der ersten Etappe fest. Die Fenster sind nur zwischen den Waggons zu öffnen, über den Türen. Hier soll man sich aus Sicherheitsgründen nicht aufhalten; Reisende mit Fotoapparaten wie ich ignorieren diesen Hinweis und die Zugbegleiter haben es wohl aufgegeben, ständig darauf hinzuweisen. Was ist schon Sicherheit gegen ein schönes Foto?

Ankunft des Chepe

Die Fahrt geht zunächst über flaches Land. Kakteen, hellrindige kahle Bäume, Dornengestrüpp, zwischendurch ein paar Rinder. Auf den hohen Cardonkakteen sitzen Schopfkarakaras und halten Ausschau. Ein paar Truthahngeier kreisen in der Luft. Ich genieße das monotone Klackern der Räder auf den Schienen. Die Landschaft spiegelt sich an der Außenwand des Zuges. Die Sonne scheint, der Himmel ist stahlblau. Gestern hat es geregnet. Wir haben Glück, heute. Plötzlich herrscht Gedränge an den wenigen offenen Stellen – der Schaffner hat den Sitzenden mitgeteilt, dass bald die längste Brücke käme. Ich halte meinen Platz, der zufällig auf der rechten und damit richtigen Seite ist. Der Blick auf den breiten El Fuerte Fluss lässt mein Herz höher schlagen. Viel zu schnell ist die beinahe 500 Meter lange Brücke überquert.

Brücke über den el Fuerte

Dann folgt mit 1,8 Kilometern der längste von 86 Tunneln. Davon habe ich kein Foto. Die ersten Berge sind in Sichtweite. Langsam, für den Reisenden eher unmerklich, gewinnt der Zug an Höhe. Dann, unvermittelt, nach einem Tunnel, blicken wir in den Abgrund. Die Amerikanerin aus New Mexico ist überwältigt und macht wohl in Gedanken direkt ihr Testament: „Oh my  god, oh my god.“ Wir fahren durch den nächsten Tunnel „oh my god“ und um die nächste Kurve „oh …“ Ja, es ist wahrhaft spektakulär. Nicht mal für einen Fußgänger wäre Platz zwischen Gleisen und Abgrund. In der Tiefe schlängelt sich ein grüngrauer Fluss, eingebettet in zerfurchte, schroff aufsteigende Felswände. Die Säulenkakteen sind verschwunden; sie sind Nadelhölzern gewichen. Vier Stunden dauert die Fahrt bis Bahuichivo und meinen Stehplatz am Fenster verlasse ich nur für einen unaufschiebbaren Toilettengang.

Landschaft zwichen El Fuerte und Bahuichivo

In Bahuichivo wartet der hoteleigene Kleinbus; der Fahrer sammelt seine Gäste ein. Zur Übernachtung fahren wir ins 15 Kilometer entfernte Cerocahui. Wieder habe ich eine spektakuläre Unterkunft und wieder eine ehemalige Hazienda. „El Misión“ liegt im Zentrum des Dorfes direkt neben der schönen Missionskirche. Die im mexikanischen Stil eingerichteten vierzig großen Zimmer mit Kamin gruppieren sich um das hauseigene Weingut. Den Wein gibt’s dann am Abend zum guten Essen im Restaurant. Die Preise sind gehoben, doch sowohl die Speisen als auch der Wein sind ihren Preis wert. Warum alle Räume mit einem Kamin ausgestattet sind, wird ebenfalls am Abend klar: Es ist kalt hier, sehr kalt. Wir sind in 1600 m Höhe und abends fällt die Temperatur auf um die Null Grad.

Vom Hotel wird ein Ausflug zum Aussichtspunkt Cerro Gallegos angeboten. Der Blick von dort in die Barranca Urique ist wahrhaft gewaltig: Tiefe, zerklüftete Canyons so weit das Auge reicht. So tief das Auge reicht. Das Dorf Urique, dort unten am Fluss, liegt 1.800 Meter tiefer. 1995 bekamen die Einwohner Anschluss an das Telefonnetz und seit 2001 werden sie mit Strom versorgt. Bereits seit 1976 ist Urique durch eine Straßenpiste erreichbar, davor waren Pferde, Esel und die eigenen Füße das Transportmittel. Wen wundert es da, dass die Tarahumara, die in diesem Canyonland wohnen, zu den besten Läufern weltweit zählen und dass in Urique der jährliche „Ultra Caballo Blanco“ stattfindet. Ein Marathon über 82 Kilometer auf unwegsamen Canyonpfaden. Es sind 40 Straßenkilometer bis dort unten, doch es gibt mehr Kurven als gerade Strecke. Für die Fahrt sollten vier Stunden veranschlagt werden; sie ist nur mit einem Allradfahrzeug möglich. Oder zu Fuß. Wovon lebt dieser Ort? Dem Anbau von Obst, Gemüse und Hanf. Ja, die Wirtschaft der gesamten Region wird vom Marijuana-Handel belebt und es kann zu Auseinandersetzungen zwischen einzelnen lokalen Kartellen kommen. Der Reisende sollte sich hier nicht allein auf den Weg machen. Uns reicht der Blick von oben. Die Umgebung von Cerrocahui ist für einen mehrstündigen Spaziergang am Morgen bestens geeignet. Ohne Wanderführer sollte man jedoch nicht unterwegs sein. Das sei gefährlich. Durch die Hotelrezeption wird Don Juan als Guide engagiert. Er ist ein rüstiger Mittsiebziger in flip-flopähnlichen „Wanderschuhen“ und lebt von seinem kleinen Hof. Mit einem Knüppel als Wanderstock in der Hand marschiert er mit langen Schritten voraus. Zunächst will er mit uns durch den Fluss. Wir streiken. Wassertreten bei einer Außentemperatur von knapp über Null Grad? Nein, lieber nicht, wenn es sich vermeiden lässt. So wählt Juan einen anderen Weg, hinauf auf einen Hügel. Das ist mindestens genauso schön. Begleitet wird unsere kleine Gruppe von frei umherlaufenden Hunden. Überall in den Dörfern sind Hunde zahlreich. Sie sind alle freundlich gegenüber vorbeilaufenden Fremden – wohl in der Hoffnung auf etwas Nahrhaftes.

Wanderung in und um Cerrocahui

Gegen Mittag besteige ich wieder den Zug. Die Landschaft ist nicht mehr ganz so spektakulär. Umso atemberaubender bin ich im nächsten Ort Posada Barancas untergebracht. Das Hotel „El Castillo“, geführt von der kleinen, drahtigen Doña Maria, liegt am bewaldeten Hang. Nicht wirklich besonders. Wie Schwarzwald. Haben wir zu Hause auch. Über gefühlt 100 Treppen steige ich durch den Kiefernwald hinauf, schnaufend wie die Diesellok des Chepe. Hier, in 2100 m Höhe, wird die Funktion von Herz, Kreislauf und Lunge gut auf die Probe gestellt. Auf dem Gipfel stehe ich vor dem Zimmerkomplex. Um den Eingang zu erreichen muss ich um das Gebäude herum auf die andere Seite gehen. Hier höre ich auf zu atmen. Direkt vor meiner Zimmertür ist die Abbruchkante. Tief unter mir sind steile, zerklüftete Täler. Der Barranca del Cobre – wie er in Mexiko genannt wird – ist ein Labyrinth aus sieben Hauptschluchten, verteilt auf eine Region die vier Mal größer ist als der bekanntere Grand Canyon in den USA. Die Bezeichnung Kupfercanyon geht auf die spanischen Eroberer zurück. Ihre Sinne waren offensichtlich nur von Metall aller Art geprägt und so glaubten sie an Kupfer als sie den grünen Schein von bemoosten Hängen sahen. Während unten im Tal tropische Früchte gedeihen ist die Vegetation hier oben eher alpin. Hier wachsen Steineichen und sechs verschiedene Kiefernarten eine davon, die Moctezumakiefer mit besonders langen Nadeln.  Es ist still hier. Hin und wieder ruft ein Vogel. Idyllisch, beschaulich. Es könnte auch ganz anders sein. Vor ein paar Jahren wurde in Sichtweite des Hotels ein Adventure-Park gebaut. Da gibt es eine 60 Personen fassende Gondel mit der man auf den nächsten Berg schweben kann. Für Mutigere gibt’s die Abseilmöglichkeit mit dem Ziprider über zweieinhalb Kilometer in die Schlucht oder eine Hochseilgarten-Tour über drei verschiedene Hängebrücken mit viel Luft unter den Füßen und Seil-Schwung á la Tarzan über dem Abgrund. Die einst dort lebende indigene Bevölkerung der Tarahumara, die sich selbst Rarámuri nennen, wurde für diesen Park kurzerhand enteignet. Jetzt sitzen sie vor dem Hotel und verkaufen Souvenirs in Form von geflochtenen Körben aus den Nadeln der Moctezuma-Kiefer oder Bromelienfaser. Jetzt, in dieser Woche, werden im Park Reparaturarbeiten gemacht – es ist still hier. Keine Gondelfahrt. Kein Abseilen. Mir gefällt die Stille. Abends wird die Landschaft vom vollen Mond beschienen. Das ist mitunter störend und Lichtreflexe lassen sich schwer vermeiden – die Stimmung ist jedoch großartig. Bis tief in die Nacht bin ich mit der Kamera unterwegs und eine Stunde vor Sonnenaufgang halte ich sie schon wieder in der Hand. Dieser Ort ist stressig.

Landschaft in Posada Barrancas

Das nächste Stück der Zugfahrt nutze ich für ein zweistündiges Nickerchen. Verpasst habe ich nichts, behaupten die Mitreisenden. Zwischen Posada Barrancas und Creel ist die Landschaft sanft hügelig und baumbewachsen aber ohne tiefe Schluchten. Creel liegt mehr als 2000 m hoch und ist vom Kiefernwald umgeben. Es ist ein ehemaliger Holzfällerort. Heute lebt der Ort von den Gästen des Chepe. Es ist kalt hier. Eiskalt. Ich grabe meinen Rollkragenpullover aus, Handschuhe wären auch nicht schlecht. Mittags wird’s jedoch warm und ich treffe auf eine junge Frau in knallrotem Ballkleid. ‚Die Bräute werden auch immer jünger‘, denke ich. Auf Nachfragen werde ich belehrt: Das Mädchen feiert ihren 15. Geburtstag! Endlich 15! Dieser Geburtstag wird in Mexiko groß gefeiert und wohl jedes Mädchen träumt von solch einem Prinzessinnenkleid, doch nicht jede Familie kann sich ein solches Outfit mit dazu gehörender Feier leisten.

Fotos aus Creel

Von Creel fährt der Zug durch landwirtschaftlich geprägte Felderlandschaft. In Cuauhtémoc, 82 Kilometer vor Chihuahua, ist das Zentrum dieser fruchtbaren Kornkammer des Bundeslandes. Hier hat sich die Religionsgemeinschaft der Mennoniten niedergelassen. Mennoniten sind „eine evangelische Freikirche, die auf die Täuferbewegungen der Reformationszeit zurückgeht“ (Wikipedia). Ihr Ursprung liegt in den Niederlanden und Norddeutschland. Sie lehnen jede Form von Gewalt ab und damit auch den Kriegsdienst. Dies brachte Mennoniten häufig in Konflikt mit dem Staat in dem sie gerade lebten und zwang sie zur Auswanderung. So wanderten sie im 18. Jahrhundert über Preußen nach Sibirien und weiter nach Kanada, den USA und Mexiko. Heute leben mehr als 40.000 Mennoniten in der Gegend um Cuauhtémoc. Hier betreiben sie Milchwirtschaft und Obstanbau. In der Siedlung 1b, treffen wir auf Abraham P. Er zeigt unserer kleinen Gruppe sein Haus und erzählt von seiner Familie. In Deutsch. Das ist seine Muttersprache obwohl seine Großeltern von Kanada nach Mexiko kamen. Seinen 40 ha Hof bewirtschaftet er mit einigen mexikanischen Erntehelfern, aber im Wesentlichen mit seiner Frau. „Vor ein paar Jahren haben wir goldene Hochzeit gefeiert“, erzählt Abraham mit strahlendem Lächeln. Seinen Stammbaum kann Abraham bis in sechs Generationen zurückverfolgen und zeigt stolz Fotos von seiner Großmutter, die dieses Haus mit aufgebaut hat. Auf dem Hof stehen zwei Pferde, ein Pony für’s Enkelkind, ein paar Kühe und eine Schar Hühner. Rente vom Staat? Nein, die bekommt er nicht. Aber er verdient noch etwas Geld indem er hin und wieder Touristen empfängt.

Chihuahua, die Endstation des Chepe ist die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates und ein Industrie- und Handelszentrum. Ich erwarte eine gesichtslose Großstadt und werde auf’s Angenehmste überrascht: Chihuahua ist rausgeputzt mit sehr lebendiger Fußgängerzone, netten Geschäften und etlichen Skulpturen. Wer hier eine Nacht bleibt sollte in jedem Fall das Wohnhaus Fransisco (Pancho) Villas besuchen, der mexikanische Bandit und Nationalheld schlechthin. Außerdem gehört der ehemalige Regierungspalast als eines der schönsten kolonialen Gebäude auf den Besuchsplan. An den Wänden des umlaufenden Kolonadenganges wurde die Geschichte Mexikos von Aarón Pina Mora gemalt. Auch die Kathedrale am Zocalo, dem Hauptplatz, ist in jedem Fall sehenswert.

Lebendiges Chihuahua

 

Einige Infos für Nachahmer:

Buchung der Zugfahrt mit dem Chepe: www.chepe.com.mx

Wer nicht selbst organisieren möchte, fährt mit einen Reiseveranstalter zum Beispiel:

Übernachtungsempfehlung von mir: